LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.03.2020 - L 15 AY 2/20 B ER - asyl.net: M28234
https://www.asyl.net/rsdb/M28234
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz gegen niedrigere Einstufung von Alleinstehenden in Sammelunterkünften als Paarhaushalt:

1. Gewährung von Prozesskostenhilfe, da die Rechtsverfolgung angesichts der nicht einfachen Rechtslage und der erst kürzlich in Kraft getretenen Vorschriften hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte.

2. Es besteht zwar ein besonderes Eilbedürfnis, welches nicht mit der Begründung abgelehnt werden kann, dass unter bestimmten Voraussetzungen möglicherweise noch niedrigere Leistungen nach einfachem Recht möglich und verfassungsrechtlich zulässig sein könnten, denn niemand hat sich dafür zu rechtfertigen, das gesetzlich vorgesehene Existenzminimum wirklich zu benötigen.

3. Bei der im Eilverfahren vorzunehmende Folgenabwägung überwiegt aber das öffentliche Interesse am Vollzug des Leistungsbescheids das Suspensivinteresse der Betroffenen.

a. Für die geltend gemachten Leistungen gibt es im geltenden einfachen Recht keine Anspruchsgrundlage, und Fachgerichte sind nicht befugt, ohne eine solche vorläufige Leistungen aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben zuzuerkennen (unter Bezug auf BVerfG, Beschluss vom 7.11.2005 – 1 BvR 1178/05).

b. Ein Gericht darf einen Rechtsstreit nur dann nicht auf Grundlage des einfachen Rechts entscheiden und muss sie dem BVerfG vorlegen, wenn es von der Verfassungswidrigkeit einer Norm überzeugt ist. Eine solche Überzeugung konnte sich der Senat im Eilverfahren nicht bilden.

c. Die Betroffene kann bis zur Entscheidung in der Hauptsache darauf verwiesen werden, sonstige Leistungen nach § 6 Abs. 1 AsylbLG in Anspruch zu nehmen, soweit dieser Bedarf außerhalb der gewährten Leistungen besteht.

(Leitsätze der Redaktion; so auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.02.2020 - L 7 AY 4273/19 ER-B - asyl.net: M28196; andere Ansicht: LSG Sachsen, Beschluss vom 23.03.2020 - L 8 AY 4/20 B ER - asyl.net: M28323)

Anmerkung:

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Prozesskostenhilfe, Asylbewerberleistungsgesetz, Bedarfsstufe, Bedarfsgemeinschaft, Sozialrecht, alleinstehend, Gemeinschaftsunterkunft, Sozialstaatsprinzip, Existenzminimum, Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner Gleichheitssatz, Bedarf, Regelleistung, Grundleistungen, Analogleistungen, Aufnahmeeinrichtung, Regelbedarf, Gemeinschaftsunterbringung, gemeinsames Wirtschaften, soziokulturelles Existenzminimum, Bargeldbedarf, vorläufiger Rechtsschutz, Schicksalsgemeinschaft, Sammelunterkunft, Verfassungsmäßigkeit, Einspareffekt, Paarhaushalt, verfassungskonforme Auslegung, Auslegung, Leistungskürzung, alleinstehend,
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1, GG Art. 3 Abs. 1, GG Art. 100 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde ist jedoch nur insoweit begründet, als sie sich gegen die Ablehnung des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe richtet. Die Voraussetzungen für deren Gewährung sind erfüllt (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V. mit §§ 114ff. Zivilprozessordnung [ZPO]). Im Besonderen hatte die Rechtsverfolgung jedenfalls angesichts der nicht einfachen Rechtslage unter Berücksichtigung von erst kürzlich in Kraft getretenen Vorschriften hinreichende Aussicht auf Erfolg. Aus denselben Gründen war Prozesskostenhilfe auch für das Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu gewähren, während der Antrag abzulehnen war, soweit er auch das Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe betraf: Bei dem Antragsverfahren der Prozesskostenhilfe handelt es sich nicht um eine Rechtsverfolgung im Sinne des § 114 Abs. Satz 1 ZPO (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30. Mai 1984 - VIII ZR 298/83 -, BGHZ 91, 311). [...]

Entscheidungen in Verfahren des fachgerichtlichen Eilrechtsschutzes dürfen hierbei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden (s. dazu etwa Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 28. Juni 2018 - 1 BvR 733/18 -, NVwZ 2018, 1467f.). Dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls in die Abwägung einzubeziehenden Grundrechte ist hierbei Rechnung zu tragen, um ihre Verletzung möglichst zu verhindern. Die Fachgerichte sind auch im Rahmen einer Folgenabwägung jedoch nicht befugt, Leistungsrechte zuzuerkennen, für die es im einfachen Recht keine Grundlage gibt (s. BVerfG, Beschluss vom 7. November 2005 - 1 BvR 1178/05 -, NJW 2006, 1339).

An einer besonderen Eilbedürftigkeit für gerichtlichen Rechtsschutz fehlt es nach diesen Maßstäben für die Zeit vor der Entscheidung des Senats. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dienen, auch wenn sie in pauschalierter Form gewährt werden, der Sicherung des aktuellen Lebensunterhalts. Für in der Vergangenheit liegende Zeiträume kann eine Leistungsverpflichtung deshalb nur dann besonders eilbedürftig sein, wenn sich der nicht befriedigte Bedarf aktuell auswirkt (z.B. bei offenen Mietforderungen). Dafür ist im vorliegenden Fall nichts ersichtlich.

Im sonach maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats lässt sich ein besonderes Eilbedürfnis dagegen nicht mit der Begründung verneinen, dass unter bestimmten Voraussetzungen möglicherweise noch niedrigere Leistungen nach einfachem Recht möglich und verfassungsrechtlich zulässig sein können. Die streitigen Leistungen der Sicherung des Existenzminimums betreffen in Gestalt der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 1 Abs. 1 i.V. mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz [GG]) ein absolut wirkendes Grund- und zugleich Menschenrecht, welches unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder dem Aufenthaltsstatus eines Menschen über den Erhalt der physischen Existenz auf ein Mindestmaß an Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gerichtet ist (s. stellvertretend BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 u.a. -, BVerfGE 132, 134). Niemand hat sich deshalb dafür zu rechtfertigen, dass er das ihm von Gesetzes wegen zustehende Existenzminimum "wirklich" benötigt (zu den Anforderungen an Absenkungen von Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums s. im Übrigen BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 - 1 BvL 7/16 -, NJW 2019, 3703ff.).

Es fehlt aber an einem Anordnungsanspruch. Für die von der Antragstellerin geltend gemachte Leistung gibt es im geltenden einfachen Recht keine Anspruchsgrundlage. In diesem Fall kommt, wie ausgeführt, auch im Wege der Folgenabwägung keine ihr günstige Entscheidung in Betracht. [...]

Ein Rechtsstreit ist nur dann auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG einzuholen, wenn ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält (Art. 100 Abs. 1 GG). Das Gericht hat deshalb nicht den Regelfall zu begründen, warum es ein dem Verwertungsmonopol des BVerfG unterliegendes Gesetz anwendet. Vielmehr darf es - umgekehrt - nur dann einen Rechtsstreit nicht auf der Grundlage des einfachen Rechts entscheiden, wenn es von der Verfassungswidrigkeit der entscheidungserheblichen Rechtsnorm überzeugt ist. Eine solche Überzeugung konnte sich der Senat im Rahmen des vorliegenden, auf Vorläufigkeit angelegten Verfahrens nicht bilden. Die Antragstellerin macht zwar umfangreiche Ausführungen zu der aus ihrer Sicht vorzunehmenden verfassungsrechtlichen Würdigung der anwendbaren Rechtsvorschriften. Abgesehen davon, dass eine vertiefte Würdigung sich gegebenenfalls stellender verfassungsrechtlicher Fragen regelmäßig nur in einem Hauptsacheverfahren geleistet und auch nur dort der Rechtsweg zum Bundessozialgericht als dem obersten Fachgericht der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet werden kann, kann die Antragstellerin aber wenigstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache darauf verwiesen werden, sonstige Leistungen nach § 6 Abs. 1 AsylbLG in Anspruch zu nehmen, soweit sie einen konkreten Bedarf oberhalb der ihr vom Antragsgegner derzeit zuerkannten Leistungen geltend machen kann. [...]