Aufhebung eines Widerrufsbescheids des BAMF:
1. Der Widerruf nach § 73c Abs. 2 AsylG eines Abschiebungsverbots verlangt eine beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse. Durch die neuen Tatsachen muss sich eine andere Grundlage für die Gefahrenprognose beim Abschiebungsverbot ergeben.
2. In Bezug auf Afghanistan lässt sich anhand der vorliegenden Erkenntnismittel nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, dass sich die humanitären Verhältnisse derart verändert haben, dass die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots vor dem Hintergrund der besonderen persönlichen und gesundheitlichen Situation der betroffenen Person entfallen sind.
(Leitsätze der Redaktion; ähnlich: VG Halle, Urteil vom 06.02.2020 - 5 A 33/19 HAL - asyl.net: M28211)
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Die vorliegend maßgebliche Rechtsgrundlage des § 73c Abs. 2 AsylG verlangt eine beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse. Dies erfordert die Feststellung einer derartigen Veränderung der Sachlage, dass die Voraussetzungen für das festgestellte Abschiebungshindernis - hier nach § 60 Abs. 5 AufenthG - entfallen sind. Durch neue Tatsachen muss sich eine andere Grundlage für die Gefahrenprognose bei dem jeweiligen Abschiebungsverbot ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 2011 - 10 C 24.10 - juris, Rdnr. 16). Sind danach die tatsächlichen Voraussetzungen für das konkret festgestellte Abschiebungsverbot entfallen, ist zudem zu prüfen, ob nationaler zielstaatsbezogener Abschiebungsschutz aus anderen Gründen besteht (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 3. März 2016 - 13 A 1828/09.A - juris, Rn. 36). Das Gericht hat im Anfechtungsprozess gegen den Widerruf von Abschiebungsschutz nach nationalem Recht den Widerrufsbescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen und dabei auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie von der Behörde nicht geltend gemachte Widerrufsgründe einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2015 - 1 C 2.15 - juris, Rn. 14).
In Anwendung dieser Grundsätze lässt sich vorliegend nicht feststellen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen des mit Bescheid des Bundesamtes vom 10. Januar 2017 festgestellten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG entfallen sind, das heißt dass dem Kläger unter Berücksichtigung der allgemeinen humanitären Verhältnisse in Afghanistan nunmehr eine Sicherung seiner Grundbedürfnisse möglich erscheint und seine Rückführung nach Afghanistan keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK mehr nach sich zieht. Die Argumentation der Beklagten für den angeblichen Wegfall der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG, die Lage habe sich jedenfalls in den Städten Kabul, Mazar-e-Sharif und Herat derart stabilisiert und verbessert, dass von einer existenzbedrohenden Gefahrenlage nicht mehr auszugehen sei, vermag die Annahme des Bestehens neuer Tatsachen, die eine veränderte Grundlage für die Gefahrenprognose im Hinblick auf das festgestellte Abschiebungsverbot geschaffen haben, nicht zu rechtfertigen.
Wann eine Gefahrenlage auf Grund der humanitären Bedingungen in Afghanistan zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK führt, hängt unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan von der persönlichen Situation des Klägers ab. Diese wird wiederum durch eine Vielzahl einzelfallbezogener Kriterien bestimmt, zum Beispiel seine Schul- und Ausbildung, seine berufliche Qualifikation, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, sein Geschlecht, seinen Familienstand, Alter und Betreuungsbedarf seiner Kinder, Vorhandensein eines familiären Netzwerkes und seine wirtschaftliche Situation (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschlüsse vom 24. Oktober 2018 - 3-L 393/18 - juris, Rdnr. 5, und vom 14. Januar 2019 - 3 L 442/18 -).
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs erscheint es nicht ausgeschlossen, dass dem Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation und der aktuellen Erkenntnislage zu Afghanistan auch weiterhin im Fall seiner Rückkehr in sein Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, weil er aufgrund der dort vorherrschenden schlechten humanitären Verhältnisse voraussichtlich nicht zur Sicherung seines Existenzminimums in der Lage sein wird.
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes verschlechtert sich die humanitäre Lage in Afghanistan. Das rapide Bevölkerungswachstum von rund 2,4 % im Jahr ist nach der Sicherheitslage die zentrale Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes. Sie macht es dem afghanischen Staat nahezu unmöglich, alle Grundbedürfnisse der Bevölkerung angemessen zu befriedigen. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht. Die hohe Arbeitslosigkeit wird verstärkt durch vielfältige Naturkatastrophen. Die Versorgungslage für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, aus Pakistan und Iran ist nach wie vor schwierig. Der Mangel an Arbeitsplätzen, unter anderem in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zu Arbeit und Wohnraum funktioniert in Afghanistan im Wesentlichen über Kontakte, Netzwerke oder Bestechung (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juli 2019), 2. September 2019, S. 27 ff.; Amnesty International, Antwort auf Anfrage des VG Wiesbaden vom 5. Februar 2018, S. 50 ff.).
Auch nach der Erkenntnislage des UNHCR in den Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 ist Voraussetzung für die Zumutbarkeit der Neuansiedlung in Afghanistan insbesondere, dass der Asylantragsteller in dem Neuansiedlungsgebiet Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder seiner (erweiterten) Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gemeinschaft hat und diese willens und in der Lage sind, den Schutzsuchenden tatsächlich zu unterstützen. Die einzige Ausnahme von dem Erfordernis der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im erwerbsfähigen Alter ohne besondere Gefährdungsfaktoren dar. Diese Personen können unter bestimmten Umständen ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in städtischen und halbstädtischen Gebieten leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Lebensgrundlagen zur Sicherung der Grundversorgung bieten und die unter der tatsächlichen Kontrolle des Staates stehen (UNHCR, UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, vom 30. August 2018, S. 124 f.). Die sich abzeichnenden humanitären Verhältnisse gebieten eine kritische Einzelfallprüfung, ob die Sicherung des Existenzminimums erwartet werden kann.
Vor diesem Hintergrund ist die angeführte Begründung in dem streitgegenständlichen Bescheid, die Lage habe sich jedenfalls in den Städten Kabul, Mazar-e-Sharif und Herat derart stabilisiert und verbessert, dass im Fall des Klägers trotz fehlender beruflicher Qualifikation und familiärer Unterstützung sowie fehlenden Vermögens von einer existenzbedrohenden Gefahrenlage nicht mehr auszugehen sei, nicht überzeugend. Es erscheint vielmehr nicht ausgeschlossen, sondern möglich, dass ihm auch weiterhin in Afghanistan, auch und gerade in den Großstädten, eine unangemessene und unmenschliche Behandlung droht.
Der Kläger gehört zwar zum Personenkreis der alleinstehenden jungen Männer. Jedoch bestehen bereits im Hinblick auf seine Erwerbsfähigkeit in Anbetracht der stationären Epikrise des Facharztes MU Dr. ... von der Klinik für Neurochirurgie des Städtischen Klinikums ... vom ... 2020 erhebliche Bedenken. Ausweislich dieser leidet der Kläger seit ungefähr sieben Monaten an therapieresistenten Lumboischialgien linksseitig mit Ausstrahlung in den lateralen Ober- und Unterschenkel bis zum Außenknöchel mit Kribbelparästhesien entlang der Schmerzstraße. Der Kläger wurde wegen des diagnostizierten breitbasigen Bandscheibenvorfalls in Höhe LW 4/5 links am ... 2020 operiert und soll aufgrund andauernder, nicht wesentlich verbesserter Schmerzen sowie eines diagnostizierten frischen Rezidivs des Vorfalls paramedial links in dem operierten Segment am ... 2020 erneut operiert werden. Darüber hinaus verfügt er weder über eine Schulbildung, noch über eine Berufsausbildung oder ein familiäres Netzwerk in Afghanistan, das ihm bei der Reintegration in die afghanische Gesellschaft behilflich sein könnte. Seine im Rahmen der bisherigen Tätigkeit als Schafhirte gesammelten Erfahrungen dürften ihm in den Großstädten Kabul, Mazar-e-Sharif oder Herat nicht von Nutzen sein. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass ihm noch erhebliches Vermögen in Deutschland oder Afghanistan für die Gewährleistung seines Existenzminimums zur Verfügung steht oder er auf andere Weise als durch Erzielung von Erwerbseinkommen seine Existenz in Afghanistan sichern könnte.
Es erscheint damit zumindest fraglich, ob er. sich im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan unter Berücksichtigung des angespannten Arbeits- und Wohnungsmarktes im Herkunftsland aufgrund der vorgenannten erschwerenden Umstände ein Leben am oberen Rand des Existenzminimums finanzieren und allmählich in die afghanische Gesellschaft integrieren können wird.
Lässt sich bei diesem Sach- und Streitstand nicht feststellen, dass die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der humanitären Bedingungen in Afghanistan für den Kläger unter das erforderliche Maß der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gesunken ist, geht dies nach den allgemeinen Grundsätzen zu Lasten der Beklagten. Diese trägt die materielle Beweislast für das Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, das heißt hier für das Vorliegen einer beachtlichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse dergestalt, dass im Fall einer Rückkehr des Klägers nach Afghanistan für diesen eine existenzbedrohende Lage nicht mehr beachtlich wahrscheinlich ist. [...]