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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 05.03.2020 - 8 LA 83/19 - asyl.net: M28202
https://www.asyl.net/rsdb/M28202
Leitsatz:

Kein pauschales Absehen von Spracherfordernis bei Niederlassungserlaubnis für Personen über 50:

"1. Eine Härte i.S.d. § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, die zum Absehen von dem Spracherfordernis des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG führen kann, liegt vor, wenn der Spracherwerb eine angesichts des mit dem Sprach­erfordernis verfolgten Zwecks, den dauerhaften Aufenthalt an eine der Integration dienliche Sprachkompetenz zu knüpfen, unzumutbare Belastung bedeutet.

2. Eine Härte liegt nicht schon immer dann vor, wenn der Ausländer bei der Einreise bereits über 50 Jahre alt war. Das besagt auch Nr. 9.2.2.2.2 AVwV-AufenthG nicht.

3. Aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände kann ein Härtefall zu verneinen sein, wenn die Gesamtheit der seit der Einreise erfolgten Bemühungen zum Spracherwerb nicht die erforderliche Kontinuität und Tiefe erkennen lässt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Deutschkenntnisse, ältere Person, Härte, Absehensermessen, Spracherfordernis, unzumutbare Belastung, Alter,
Normen: AufenthG § 9 Abs. 2 S. 4, AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 7
Auszüge:

[...]

7 Das Absehensermessen ist gemäß § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG eröffnet, wenn es zur Vermeidung einer Härte dient. Soll von der Voraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AufenthG abgesehen werden, muss die Härte sich aus der Notwendigkeit ergeben, ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen. Das ist der Fall, wenn der Spracherwerb eine angesichts des mit dem Spracherfordernis verfolgten Zwecks, den dauerhaften Aufenthalt an eine der Integration dienliche Sprachkompetenz zu knüpfen, unzumutbare Belastung bedeutet. Eine solche besteht insbesondere im Falle einer wesentlichen und dauerhaften Erschwerung des Spracherwerbs. Namentlich liegt ein Härtefall vor, wenn der Betroffene trotz verstärkter Bemühungen die Anforderungen unverschuldet nicht erfüllen kann oder wenn ihm der Nachweis der Sprachkenntnisse misslingt, obwohl er im Alltagsleben zurechtkommt und er alles unternommen hat, was ihm möglich war, um die Sprachkenntnisse zu erwerben.

8 Das ergibt sich außer aus der Funktion des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG aus seiner Entstehungsgeschichte. In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es:

9 "Satz 4 gibt der Ausländerbehörde eine Ermächtigung (Ermessen), Härtefälle zu lösen. Gedacht ist hier an Fälle, in denen die Betroffenen z.B. trotz verstärkter Bemühungen die Anforderungen unverschuldet nicht erfüllen können. Insoweit wird es (auch bei strikter Steuerung der Zuwanderung im Bereich der wirtschaftlichen Migration) immer Einzelfälle – z.B. im Rahmen der Familienzusammenführung – geben, in denen die Betroffenen bei aller Anstrengung – und selbst bei Berücksichtigung von Alter und Bildungsstand – die geforderten Kenntnisse nicht in hinreichendem Maße erwerben können. Dies kann etwa bei ‚bildungsfernen‘ Menschen vorkommen, die in einer anderen Schriftsprache sozialisiert worden sind. Es kann nicht Intention des Gesetzes sein, diesen Menschen dauerhaft eine Aufenthaltsverfestigung vorzuenthalten, obgleich sie im Alltagsleben erkennbar zurechtkommen und sie alles unternommen haben, was ihnen möglich war, um die in den Nummern 7 und 8 geforderten Kenntnisse zu erwerben." (BT-Drs. 15/420, S. 72 f.; vgl. BVerwG, Urt. v. 28.4.2015 - 1 C 21.14 -, BVerwGE 152, 76, juris Rn. 18).

10 Ob eine solche Härte vorliegt, kann nur die Betrachtung des Einzelfalls ergeben. Starre Kategorien sind dem Wesen einer Härtevorschrift fremd. Dabei gilt, dass es nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG keiner außergewöhnlichen oder besonderen Härte bedarf. In diesem Sinne sind an das Vorliegen der Härte keine strengen Anforderungen zu stellen (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 18.6.2015 - 10 C 15.675 -, juris Rn. 11).

11 Die Tatbestandsvoraussetzung der Härte ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften binden insoweit nicht. Daher könnte Nr. 9.2.2.2.2 AVwV-AufenthG dem Begriff der Härte keinen abweichenden Inhalt geben. Das bezweckt die Verwaltungsvorschrift aber auch nicht. Sie vertritt nicht die Auffassung, dass immer dann eine Härte vorliege, wenn der Ausländer bei der Einreise bereits über 50 Jahre alt war (vgl. VG München, Gerichtsbesch. v. 18.3.2019 - M 27 K 17.5631 -, juris Rn. 36; Hailbronner, Ausländerrecht, § 9 AufenthG Rn. 49 (Okt. 2019)). Vielmehr geht sie davon aus, dass in einem solchen Fall eine Härte vorliegen "kann" und fordert weitere Umstände: "Aus den geltend gemachten, nachzuweisenden Gründen muss sich unmittelbar nachvollziehen lassen, dass im Einzelfall eine Erschwernis vorliegt." Die Ansicht des Antrags auf Zulassung der Berufung, es gebe eine Ausnahmeregelung, die jene privilegiere, die bei Einreise über 50 Jahre alt gewesen seien, und diese stelle nicht darauf ab, was der Ausländer hätte tun müssen, ist folglich unrichtig. [...]

14 Die mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken für den Fall, dass nicht ab Überschreiten einer Altersgrenze auf den Sprachnachweis verzichtet wird, sind unbegründet. Ein Erfahrungssatz, wonach Menschen nach Vollendung des 50. Lebensjahrs allgemein in ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten eingeschränkt wären, besteht nicht. Ob im fortgeschrittenen Lebensalter Einschränkungen bestehen, die den Spracherwerb als eine angesichts des mit dem Spracherfordernis verfolgten Zwecks, den dauerhaften Aufenthalt an eine der Integration dienliche Sprachkompetenz zu knüpfen, unzumutbare Belastung erscheinen lassen, kann nur im Einzelfall anhand der konkreten Leistungsfähigkeit festgestellt werden. Dass bei über 50 Jahre alten berufstätigen Menschen die Ermüdungserscheinungen hoch und die Belastbarkeit nach einem vollen Arbeitstag nur noch geringfügig vorhanden wäre, trifft als allgemeine Aussage nicht zu. Dass es demnach des Vortrags von Umständen des Einzelfalls bedarf, aus denen sich eine besondere Belastung durch den Spracherwerb ergibt, führt nicht zur Unverhältnismäßigkeit der gesetzlichen Regelung. Hinzu kommt, dass § 9 Abs. 2 Satz 4 AufenthG allein den Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis betrifft. Inwiefern aus einem Grundrecht folgen könnte, dass bei dem vom Antrag auf Zulassung der Berufung angenommenen Sachverhalt gerade ein unbefristeter Aufenthaltstitel erteilt werden müsste und eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis nicht ausreichend sein könnte, ist weder ersichtlich noch dargelegt.

15 [...] Allein aus dem Alter der Klägerin folgt nicht, dass der Spracherwerb sie zwingend in einen Erschöpfungszustand bringen werde. Konkrete Tatsachen hinsichtlich ihrer Belastbarkeit hat sie nicht vorgetragen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht grundsätzlich zumutbare Lernformen aufgezeigt, die neben einer Berufstätigkeit möglich sind.

16 [...] Aus der Anmeldung zu Kursen allein ergibt sich keine im Wesentlichen lückenlose Teilnahme. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Beklagte substantiiert bestritten hat, dass die Klägerin den Termin zur mündlichen Prüfung am 23. Januar 2015 überhaupt wahrgenommen hat, und dass die Klägerin sich hierzu nicht verhalten hat. [...]

25 Eine Härte setzt keine Unmöglichkeit voraus, sondern eine angesichts des mit dem Spracherfordernis verfolgten Zwecks, den dauerhaften Aufenthalt an eine der Integration dienliche Sprachkompetenz zu knüpfen, unzumutbare Belastung durch den Spracherwerb. Diese kann je nach den Umständen gegeben sein, wenn Betroffene alles unternommen haben, was ihnen möglich war, um die geforderten Kenntnisse zu erwerben. Allein der vorhandene Wille zum Spracherwerb hilft hingegen nicht. Auch das ist aus der Gesetzesbegründung ableitbar. [...]

29,30 Grundsatzbedeutung hat auch nicht die Frage, ob die Regelung insbesondere mit dem gesteigerten Alter von deutlich über 50 Jahren verfassungsrechtlich dahin auszulegen ist, dass an die Anstrengungen zum Erwerb eines Sprachkurses auf B1 Niveau sowie des Besuches eines Integrationskurses keine allzu hohen Erwartungen gestellt werden dürfen, diese in jedem Fall durch eine Prüfung zu bestehen. [...]