VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 09.12.2019 - 10 K 995/18.A - asyl.net: M28184
https://www.asyl.net/rsdb/M28184
Leitsatz:

Zweitantrag nur bei vorheriger Asylantragstellung in EU-Staat:

"1. §§ 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2, 71a Abs. 1 AsylG stehen grundsätzlich mit Unionsrecht in Einklang.

2. §§ 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2, 71a Abs. 1 AsylG verstoßen jedoch gegen Unionsrecht, soweit ein Asylantrag auch dann als unzulässig abzulehnen ist, wenn das zuvor erfolglos abgeschlossene Asylverfahren in einem Staat durchgeführt wurde, der wie z.B. die Schweiz kein Mitgliedstaat der Europäischen Union ist.

3. Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU setzt voraus, dass sowohl der "frühere" als auch der "weitere" Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union gestellt wurde."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Unzulässigkeit, Zweitantrag, EU-Mitgliedstaat, Unionsrecht, Schweiz, Dublin III-Verordnung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 71a Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 33,
Auszüge:

[...]

(1) Die Anwendung der §§ 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2, 71a Abs. 1 AsylG auf Staaten, die wie die Schweiz zwar am Dublin-System teilnehmen, ohne Mitglied der Europäischen Union zu sein (im Folgenden: assoziierte Staaten), ist nicht mit dem Wortlaut des Art. 33 Abs. 2 lit. d) i.V.m. Art. 2 lit. b) und q) RL 2013/32/EU vereinbar.

(a) Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU bestimmt, dass die Mitgliedstaaten - wie bereits dargelegt - einen Antrag auf internationalen Schutz auch dann als unzulässig betrachten können, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zutage getreten oder vorgebracht worden sind. Wird zunächst ein Antrag auf internationalen Schutz in einem Staat, der nicht der Europäischen Union angehört, abgelehnt und stellt die betroffene Person daraufhin in einem Mitgliedstaat einen weiteren solchen Antrag, handelt es sich bei letzterem nicht um einen Folgeantrag i.S.d. Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU. Dies folgt aus Art. 2 lit. q) und Art. 2 lit. b) RL 2013/32/EU. Art. 2 lit. q) RL 2013/32/EU bestimmt, dass der Begriff "Folgeantrag" einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz bezeichnet, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Art. 28 Abs. 1 RL 2013/32 EU abgelehnt hat. Dementsprechend setzt ein Folgeantrag voraus, dass zwei Anträge auf internationalen Schutz gestellt wurden, nämlich ein "früherer" und ein "weiterer" Antrag. Bei beiden Anträgen muss es sich um einen Antrag auf internationalen Schutz i.S.d. Art. 2 lit. b) RL 2013/32/EU handeln (vgl. VG Hamburg, Beschluss vom 14. Juli 2016 – 1 AE 2790/16 -, juris Rn. 17).

Unter "Antrag auf internationalen Schutz" oder "Antrag" ist gemäß Art. 2 lit. b) RL 2013/32 das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat (Hervorhebung durch das Gericht) zu verstehen, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung subsidiären Schutzes anstrebt und der nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2011/95/EU ersucht. Ausgehend von diesem eindeutigen Wortlaut setzt die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz als unzulässig gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. d) RL 2013/32/EU voraus, dass sowohl der "frühere" als auch der "weitere" Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes nach der Richtlinie 2011/95/EU gerichtet war und in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union gestellt wurde (vgl. VG Minden, Beschlüsse vom 9. Juli 2019 - 10 L 431/19.A -, juris Rn. 25, und vom 13. September 2019 - 10 L 1000/19.A -, juris Rn. 25; VG Köln, Beschluss vom 30. Januar 2020 – 8 L 130/20.A -, S. 4 ff.).

Dieses Ergebnis wird durch die Definition des Begriffs "bestandskräftige Entscheidung" in Art. 2 lit. e) RL 2013/32/EU gestützt. Nach dieser Norm ist unter diesem Begriff eine Entscheidung darüber zu verstehen, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der Richtlinie 2011/95/EU die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, sofern gegen diese Entscheidung kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann, unabhängig davon, ob ein solcher Rechtsbehelf zur Folge hat, dass Antragsteller sich bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf in dem betreffenden Mitgliedstaat (Hervorhebung durch das Gericht) aufhalten dürfen. Die Verwendung des Begriffs "bestandskräftige Entscheidung" in Art. 2 lit. q) RL 2013/32/EU und des Begriffs "Mitgliedstaat" in Art. 2 lit. e) RL 2013/32/EU zeigt ebenfalls, dass der Unionsgesetzgeber davon ausging, dass ein Folgeantrag nur dann vorliegt, wenn der "frühere" Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt wurde. Diese Voraussetzung liegt in Bezug auf die Schweiz nicht vor, weil sie - wie bereits dargelegt - nicht Mitglied der Europäischen Union ist. [...]