VG Greifswald

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Zitieren als:
VG Greifswald, Gerichtsbescheid vom 16.01.2019 - 6 A 1843/16 As HGW - asyl.net: M28152
https://www.asyl.net/rsdb/M28152
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungsverbots wegen paranoider Schizophrenie und Suizidgefahr, da es in Aserbaidschan keine staatliche Krankenversicherung gibt und der Zugang zu medizinischer Behandlung - offizielle Behandlungskosten und inoffizielle Zuzahlungen - daher von den finanziellen Mitteln der Kranken abhängt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aserbaidschan, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Schizophrenie,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Zwar ist grundsätzlich eine medizinische Versorgung gängiger Erkrankungen in Aserbaidschan möglich. So führt etwa der Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan (Stand: Mai 2018), S. 17, aus:

"In den letzten Jahren hat die Regierung erhebliche Investitionen im Gesundheitswesen vorgenommen. So betrug laut offiziellen Angaben die Zahl der neu errichteten und renovierten medizinischen Einrichtungen Ende 2016 etwa 500. Nach wie vor befinden sich aber die größten staatlichen Krankenhäuser und Spezialkliniken wie Kinderkrankenhäuser, Herzkliniken und psychiatrische Einrichtungen in Baku. Doch wurden in den letzten Jahren auch zentrale Krankenhäuser in den Regionen gebaut. Problematisch ist nach wie vor der relativ geringe Ausbildungsstand der lokalen Ärzte. (...)

Zur Beurteilung der Behandelbarkeit von Krankheiten arbeitet die Botschaft mit einer aserbaidschanischen Ärztin zusammen. Aus bisherigen Anfragen von Verwaltungsgerichten und Ausländerbehörden lässt sich festhalten, dass die Behandlung von regelmäßigen Krankheitsbildern wie z.B. Bluthochdruck, Diabetes, Depressionen etc. in Aserbaidschan ebenso möglich ist wie die Beschaffung der meisten üblichen Medikamente."

Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass die Verfügbarkeit medizinischer Behandlungen entscheidend von den finanziellen Mitteln des Patienten abhängt. Es besteht kein staatliches Krankenversicherungssystem. Dazu führt der eben genannte Bericht des Auswärtigen Amtes, S. 17, aus:

"Dringende medizinische Hilfe wird in Notfällen gewährt (was den Krankentransport und die Aufnahme in ein staatliches Krankenhaus einschließt); mittellose Patienten werden minimal versorgt, dann aber nach einigen Tagen 'auf eigenen Wunsch' entlassen, wenn sie die Behandlungskosten und 'Zuzahlungen' an die Ärzte und das Pflegepersonal nicht aufbringen können. In diesem Fall erfolgt dann die weitere Behandlung ambulant oder nach Kostenübernahme durch Dritte."

Allerdings muss insoweit berücksichtigt werden, dass die Frage, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG angesichts einer Erkrankung bei dem jeweiligen Ausländer vorliegen, nur einer Beurteilung anhand der jeweiligen Fallumstände, insbesondere des konkreten Krankheitsbildes, der konkreten notwendigen medizinischen Behandlungen und deren individueller Verfügbarkeit im Herkunftsstaat zugänglich ist, die grundsätzlich nicht "abstrakt" für eine Vielzahl von Fällen gleichsam vorab vorgenommen werden kann (NdsOVG, Beschl. v. 11. August 2015 - 8 LA 145/15). Die insoweit gebotene Einzelfallbetrachtung führt hier zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich des Klägers vorliegen.

Unter Zugrundelegung aller vorstehender Kriterien und unter zusammenfassender Betrachtung aller relevanten Umstände und Aspekte ist im besonderen Einzelfall des Klägers derzeit ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG anzunehmen. Es besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger aufgrund der bei ihm attestierten Erkrankungen und der belegten Krankheitsbilder bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan ohne die Behandlung in der Form, wie er diese derzeit in Deutschland erhält, und insbesondere im Hinblick auf die nach Attestlage bestehenden Gefahren alsbald schweren gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt sein würde.

Dem zuletzt vorgelegten Bericht des ...-Klinikums ... vom ... 2018 lässt sich entnehmen, dass der Kläger an paranoider Schizophrenie, rezidivierender depressiver Störung (gegenwärtig mittelgradige Episode), posttraumatischer Belastungsstörung und einer psychischen und Verhaltensstörung durch Opioide (Abhängigkeitssyndrom) leidet. Zudem läge eine B-Gastritis, Duodenitis, unklare Dysphagie, Meteorismus und Hepatitis C vor. Insbesondere hinsichtlich des psychischen Zustandes des Klägers ergibt sich aus dem genannten medizinischen Bericht folgende Beschreibung:

"Herr ... kann sich bis zum Entlassungszeitpunkt im Zusammenhang einer Abschiebung nicht von Suizidgedanken lösen. Sobald er abgeschoben sei, 'werde er sich sofort das Leben nehmen'. Aus unserer Sicht ist im Falle einer Ausweisung von einer Verschlechterung des psychischen Zustandes sowie des Gesundheitszustandes des Patienten mit höchster Wahrscheinlichkeit auszugehen. (...)

Unter stationären Bedingungen stellte sich keine große Verbesserung der gesamten Störungssymptomatik, bestehend aus depressiven Symptomen wie Interesselosigkeit, Motivationslosigkeit, Schlafstörungen, gesteigertem Appetit und psychomotorischer Hemmung mit Antriebsmangel, dar. Daneben traten wiederkehrende Angstzustände in Form von Panikattacken und Luftnot auf, intermittierende Suizidgedanken bei der Vorstellung an Trennung von der Familie bei Abschiebung. Parallel sei der Patient durch die akustischen Halluzinationen belastet und gequält."

In Anbetracht der oben ausgeführten bzw. zitierten Situation hinsichtlich der medizinischen Versorgung in Aserbaidschan und dieser ärztlichen Stellungnahme - sowie weiterer gleichlautender ärztlicher Stellungnahmen des ...-Klinikums ... vom ... 2018, vom ... 2018 und vom ... 2017 - die sowohl die Vorerkrankungen des Klägers, die ergriffenen Maßnahmen sowie den derzeitigen gesundheitlichen Zustand des Klägers ausführlich und widerspruchsfrei beschreibt, würde sich der Gesundheitszustand des Klägers zur Überzeugung des Gerichts im Falle einer Rückkehr nach Aserbaidschan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und alsbald verschlechtern. Auf die Möglichkeit der Behandlung und Erlangung von Medikamenten für die übrigen Krankheitsbilder des Klägers kommt es in diesem Falle nicht mehr an.

Vor diesem Hintergrund geht das Gericht in diesem vorliegenden Einzelfall davon aus, dass bei dem Kläger aus medizinischen Gründen im Falle seiner Rückkehr nach Aserbaidschan - jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt - erhebliche individuelle Gesundheitsgefahren bestehen würden. Der streitgegenständliche Bescheid ist daher insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich Aserbaidschans vorliegen. [...]