VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 02.10.2019 - 4 K 653/17.KS.A - asyl.net: M28106
https://www.asyl.net/rsdb/M28106
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für die in Deutschland geborene Tochter einer somalischen Mutter wegen drohender Genitalverstümmelung:

Somalia weist weltweit die höchste Rate genital verstümmelter Mädchen und Frauen auf. Auch wenn die Eltern bzw. die Mutter dagegen sind, können sie es nicht verhindern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Genitalverstümmelung,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Der in Deutschland geborenen Klägerin droht in Somalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung i.S.v. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG in Form von Genitalverstümmelung durch nichtstaatliche Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG).

Somalia weist weltweit die höchste Rate von weiblicher Genitalverstümmelung auf. Bis zu 98 % der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren sind genitalverstümmelt. Hinsichtlich des Beschneidungsalters gehen die Angaben auseinander. Die Beschneidung dürfte danach jedenfalls zwischen dem 4. und 14. Lebensjahr üblich sein (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, Stand: Januar 2019, S. 15; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Somalia, Stand: 12.01.2018, S. 99 f.; TERRE DES FEMMES, Somalia, Stand: September 2016, S. 1). Vor allem die extremste Form der weiblichen Genitalverstümmelung ist weit verbreitet. Dabei handelt es sich um Typ III der WHO-Klassifizierung bzw. die so genannte pharaonische Beschneidung/Infibulation, d.h. es findet eine Verengung der Vaginalöffnung mit Bildung eines deckenden Verschlusses statt, indem die kleinen und/oder die großen Schamlippen beschnitten und zusammengefügt werden, mit oder ohne Entfernung des äußerlich sichtbaren Teils der Klitoris (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Somalia, Stand: 12.01.2018, S. 99 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, Stand: Januar 2019, S. 15). Entsprechend verbreitet sind die hieraus resultierenden Gesundheitsprobleme der Betroffenen. Häufig findet die Beschneidung in hygienisch widrigen Zuständen statt, aufgrund von Infektionen oder großem Blutverlust überleben viele die Verstümmelung nicht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, Stand: Januar 2019, S. 15).

Die weibliche Genitalverstümmelung markiert in Somalia den Übergang von der Kindheit zum Frausein und wird in der Regel von traditionellen Beschneiderinnen ausgeführt (TERRE DES FEMMES, Somalia, Stand: September 2016, S. 1). Hintergrund der weiblichen Genitalverstümmelung ist der Gedanke, dass man die Mädchen dadurch vor erwünschtem und unerwünschtem Geschlechtsverkehr schütze, so ihre Reinheit und Jungfräulichkeit aufrechterhalten und damit ihre Position auf dem Heiratsmarkt verbessern könne. Trotz wiederholter Erklärungen der religiösen Führer des Landes, dass der Islam seine Töchter keineswegs zu Genitalverstümmelung verpflichte, diese sogar im Widerspruch zum Islam stehe, werden die Praktiken im Namen des Islam fortgeführt (TERRE DES FEMMES, Somalia, Stand: September 2016, S. 2).

Vor diesem Hintergrund droht auch der Klägerin in Somalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Genitalverstümmelung. Nach Überzeugung des Gerichts, die es aufgrund der mündlichen Verhandlung und insbesondere der informatorischen Anhörung der Mutter der Klägerin gewonnen hat, sind auch die Eltern der Klägerin bei einer Rückkehr nach Somalia trotz ihrer ablehnenden Haltung nicht in der Lage, ihre Tochter vor einer Genitalverstümmelung zu bewahren.

Die Mutter der Klägerin hat glaubhaft geschildert, wie sie selber und auch ihre älteste Tochter gegen den Willen der Eltern bzw. der Mutter beschnitten worden sind. Nach ihren glaubhaften Angaben geht der Zwang einer Beschneidung auch nicht bloß von den Eltern oder der Familie aus, sondern von der gesamten Stammesgesellschaft und der Nachbarschaft. Auch ihre Eltern haben diesem Druck nicht standhalten können. Da Männer in den Prozess der Beschneidung nicht eingebunden oder von diesem gar ausgeschlossen werden, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Vater der Klägerin wirksamen Schutz bieten kann. [...]