Kein subjektives Recht auf Selbsteintritt im Dublin-Familienzusammenführungsverfahren:
"1. Aus Art. 17 Abs. 2, 27 Abs 1 Dublin III-VO ergibt sich kein klagbares subjektives Recht des mittelbar von der Entscheidung des um Aufnahme ersuchten Mitgliedstaates gegenüber dem ersuchenden Mitgliedstaat betroffenen Antragstellers (in Anknüpfung an: EuGH, Urteil vom 23.1.2019, C 661/17, juris Rn. 73 ff.).
2. Eine Ermessensreduzierung auf die Entscheidung, dem Aufnahmegesuch eines anderen Mitgliedstaates nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO stattzugeben, ist ausgeschlossen, selbst wenn das Wohl eines Kindes betroffen ist (in Anknüpfung an: EuGH, Urteil vom 23.1.2019, C 661/17, juris Rn. 58 f. und 71 f.). Davon abgesehen erfordert eine Ermessensreduzierung einen besonders schweren Härtefall im Sinne einer besonderen Verdichtung humanitärer Gründe im familiären Kontext (im Anschluss an: VG Berlin, Beschluss vom 8.11.2019, 37 L 462.19 A, juris Rn. 23).
3. Wird eine Ermessensreduzierung in einem die Hauptsache vollständig vorwegnehmenden Eilverfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO geltend gemacht, bedarf es bereits im Eilverfahren eines substantiierten und glaubhaft gemachten Tatsachenvortrages, der weitestgehend auch für eine tragfähige Überzeugungsbildung des Gerichts nach § 108 Abs. 1 VwGO im Hauptsacheverfahren geeignet wäre.
4. Migriert ein Antragsteller ohne Not in einen anderen EU-Mitgliedstaat und verlässt damit aus freien Stücken seine zurückbleibenden Familienmitglieder, ist es nicht ermessensfehlerhaft, wenn der ersuchte Mitgliedstaat zur Vermeidung einer weiteren Sekundärmigration die Aufnahme dieser Familienmitglieder nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ablehnt."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
24 a) Nach der bisherigen Prüfung im Eilverfahren bestehen bereits durchgreifende Bedenken, ob sich für das Begehren der Antragsteller überhaupt ein klagbares subjektives Recht aus der Dublin III-VO ergibt. Nach Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO haben um internationalen Schutz ersuchende Antragsteller das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch das Gericht. Hier steht allerdings keine Überstellungsentscheidung, also ob die Antragsteller aus dem Bundesgebiet entfernt werden sollen, im Streit. Vielmehr streben sie eine Übernahmeentscheidung zugunsten der Antragstellerinnen zu 1) und 2) an, um von Griechenland nach Deutschland migrieren und hier ihr Asylverfahren betreiben zu können. Für solche Verpflichtungskonstellationen ist in der Dublin III-VO ein Rechtsmittel in Form einer gerichtlichen Überprüfung nicht vorgesehen. So hat der Gerichtshof für die Europäische Union – EuGH – entschieden, dass Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO nicht dazu verpflichtet, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung eines EU-Mitgliedstaates vorzusehen, vom Selbsteintrittsrecht keinen Gebrauch zu machen (Urteil vom 23.1.2019, C-661/17, juris Rn. 73 ff. - zu Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO -; Hruschka, Urteilsanmerkung, NVwZ 2019, S. 301). Danach bleibt nur die Möglichkeit, Entscheidungen zur Zuständigkeit inzident im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung anzufechten. Für dieses Verständnis eines beschränkten Rechtsschutzes spricht nicht nur der Wortlaut des Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO, sondern auch, dass nach der Dublin III-VO eine Rechtsbehelfsbelehrung einzig für Entscheidungen zur Überstellung in einen anderen EU-Mitgliedstaat vorgesehen ist, nämlich in Art. 26 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO.
25 Ein anderes Normverständnis ist auch nicht ausnahmsweise bezogen auf die hier in Rede stehende Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-Verordnung anzunehmen, wonach ein unzuständiger EU-Mitgliedstaat gegenüber dem zuständigen - bzw. dem um internationalen Schutz angerufenen - EU-Mitgliedstaat nach Ermessen erklären kann, die schutzsuchende Person aufzunehmen und infolgedessen deren Verfahren zu übernehmen. Soweit das Verwaltungsgericht Ansbach im Beschluss vom 26. November 2019 (AN 18 E 19.50958, juris Rn. 32; so im Ansatz auch: VG Berlin, Beschl. v. 17.6.2019, 23 K L 293.19 A, juris Rn. 22) ausführt, dass "diese Rechtsschutzlücke" in der Dublin III-Verordnung "im Hinblick auf das wichtige Recht auf Familienzusammenführung und den Schutz des Kindeswohls" gefüllt werden müsse, wird diese Ansicht nicht geteilt.
26 [...] Zum anderen spricht auch die Ausgestaltung des Verfahren in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO dafür, die Ermessensklausel nicht als ein klagbares subjektives Recht gegen die Ablehnung einer Übernahme eines nach der Dublin III-VO unzuständigen EU-Mitgliedstaates aufzufassen. Das Ersuchen auf Aufnahme in eines anderen EU-Mitgliedstaates wird nicht von dem Schutzbegehrenden selbst angebracht, sondern es wird von dem zuständigen bzw. den ersten Schutzantrag entgegennehmenden EU-Mitgliedstaat an einen anderen unzuständigen EU-Mitgliedstaat gerichtet. Daher handelt es sich um ein zwischenstaatliches bilaterales Verfahren bei dem die schutzsuchende Person nicht selbst Adressat der von dem unzuständigen EU-Mitgliedstaat getroffenen Ermessensentscheidung ist. Entsprechend ist gegen derartige Entscheidungen in der Dublin III-VO auch kein Rechtsmittel in Form einer Überprüfung durch ein Gericht bestimmt, sondern nur ein Schlichtungsverfahren nach Art. 37 Dublin III-VO vorgesehen. Die von der Schlichtungsstelle vorgeschlagene Lösung ist endgültig und kann nicht angefochten werden (Art. 37 Abs. 2 UAbs. 4 Dublin III-VO). [...]
31 (1) Die Ablehnung des Gesuchs der griechischen Behörde auf Aufnahme der Antragsteller zu 1) und 2) in das Bundesgebiet gemäß Art. 17 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO dürfte mit der Erwägung, dass der Antragsteller zu 3) die weiterhin in Griechenland weilenden Antragsteller zu 1) und 2) aus eigenen Beweggründen verlassen hat, um nach Deutschland weiter zu migrieren und einen erneuten Asylantrag zu stellen, nicht ermessensfehlerhaft sein. Die Antragsgegnerin dürfte mit ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens nicht überschritten und von ihrem Ermessen in einem dem Zweck der Ermächtigung in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO entsprechenden Weise Gebrauch gemacht haben (§ 114 Satz 1 VwGO).
32 Nach dem bisherigen Kenntnisstand des Gerichts in diesem Eilverfahren hat sich der Antragsteller zu 3) ohne Not von den Antragstellern zu 1) und 2) abgesetzt und hat damit aus freien Stücken die etwaig in Griechenland bestandene Lebensgemeinschaft mit ihnen beendet, obwohl Griechenland für alle Verfahren – auch des Antragstellers zu 3) - zuständig war. Sollte eine familiäre Gemeinschaft bestanden haben, so wäre Griechenland auch im Hinblick auf diese Gemeinschaft nach Art. 10 oder 11 Dublin III-VO zuständig gewesen, um die Einheit der Familie zu wahren. Diese Zuständigkeit Griechenlands nach der Dublin III-VO hat der Antragsteller zu 3) unterlaufen, indem er sich ohne zwingenden Anlass nach Deutschland - in einen anderen EU-Mitgliedstaat seiner eigenen Wahl - begeben und hier einen weiteren Schutzantrag angebracht hat. Es handelt sich damit um eine sekundäre Binnenmigration, die die Dublin-Verordnung gerade zu verhindern sucht. [...]
33 (2) Auch wenn davon auszugehen sein sollte, dass die Antragsgegnerin von ihrem Ermessen in einer nach § 114 Satz 1 VwGO zu beanstandenden Weise Gebrauch gemacht hätte, würde sich daraus noch kein Anspruch auf die mit dem Eilantrag erstrebte Verpflichtung der Antragsgegnerin ergeben, gegenüber der griechischen Behörde die Aufnahme der Antragstellerinnen zu 1) und 2) in Deutschland zu erklären. Vielmehr wäre dafür Voraussetzung, dass die Antragsgegnerin rechtmäßig nur die Entscheidung treffen könnte, gegenüber den griechischen Behörden die Aufnahme der Antragstellerinnen zu 1) und 2) zu erklären.
34 (aa) Eine solche Verpflichtung zu einer die betreffenden Personen begünstigenden Entscheidung dürfte bei den Ermessensklauseln in Art. 17 Dublin III-VO ausgeschlossen sein (vgl. VG München, Urt. v. 16.4.2019, M 9 S 18.50073, juris Rn. 33) und zwar selbst dann, wenn das Wohl eines Kindes in Rede steht.
35 Der EuGH hat zur Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ausgeführt (Urteil vom 23.1.2019, C-661/17, juris Rn. 58 f.):
36 "Aus dem Wortlaut […] geht klar hervor, dass diese Vorschrift insofern fakultativ ist, als sie es dem Ermessen jedes Mitgliedstaats überlässt, zu beschließen, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nicht für die Prüfung zuständig ist (vgl. In diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 2013, Halaf, C 528/11, E:C:2013:342, Rn. 36). Diese Befugnis soll es jedem Mitgliedstaat ermöglichen, sich aus politischen humanitären oder praktischen Erwägungen bereit zu erklären einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er hierfür nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist (Urteil vom 4. Oktober 2018, Fathi, C 56/17, EU:C:2018:803, Rn. 539). Angesichts des Umfangs des den Mitgliedstaaten auf diese Weise gewährten Ermessens ist es Sache des betreffenden Mitgliedstaats, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von der Befugnis, die durch die Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung eingeräumt wird, Gebrauch machen möchte, und zu entscheiden, ob er sich bereit erklärt, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist, selbst zu prüfen. Diese Feststellung steht im Übrigen auf einer Linie zum einen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den fakultativen Bestimmungen derzufolge diese Bestimmungen den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen einräumen (Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi, C-394/12, EU:C:2013:813, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zum anderen mit dem Ziel dieses Art. 17 Abs. 1, die Prärogativen der Mitgliedstaaten bei der Ausübung des Rechts auf Gewährung internationalen Schutzes zu wahren (Urteil vom 5. Juli 2018, X, C-213/17, EU:C:2018:538, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung)."
37 Zu Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO, wonach das Wohl des Kindes in allen Verfahren, die in der Dublin III-Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der EU-Mitgliedstaaten ist, hat der EuGH folgendes dargelegt (a.a.O., juris Rn. 71 f.):
38 "Angesichts dessen, dass bereits aus den Rn. 58 und 59 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dass die Ausübung der den Mitgliedstaaten durch die Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung eröffnete Befugnis an keine besondere Bedingung geknüpft ist und es grundsätzlich Sache jedes Mitgliedstaats ist, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von dieser Befugnis Gebrauch machen möchte, und zu entscheiden, ob er sich bereit erklärt, einen Antrag auf internationalen Schutz, für den er nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist, selbst zu prüfen, ist festzustellen, dass auch Erwägungen des Kindeswohls einen Mitgliedstaat nicht dazu verpflichten können, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen und einen Antrag, für den er nicht zuständig ist, selbst zu prüfen. Folglich ist Art. 6 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat, der nach den in dieser Verordnung genannten Kriterien für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz unzuständig ist, nicht dazu verpflichtet, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen und diesen Antrag in Anwendung von Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung selbst zu prüfen."
39 Diese Ausführungen des EuGHs zur Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sind auch auf die Ermessensklausel in Absatz 2 dieser Vorschrift zu übertragen. Da auch Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO dem unzuständigen EU-Mitgliedstaat die Befugnis eröffnet, selbst in die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutzes einzutreten, indem er den Antragsteller aus einem anderen EU-Mitgliedstaat aufnimmt (Art. 17 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO), sind die Anwendungsbereiche beider Ermessensklauseln in ihren Folgen vergleichbar. [...]