VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 12.02.2020 - 6 K 3529/19.TR - asyl.net: M28101
https://www.asyl.net/rsdb/M28101
Leitsatz:

Keine Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung besonders schutzbedürftiger Anerkannter in Italien:

1. In Italien droht anerkannten Schutzberechtigten keine generelle Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta aufgrund medizinischer oder materieller Not.

2. Dies gilt auch für besonders schutzbedürftige Personen wie Alleinerziehende mit Kleinkindern, denen ein gewisses Maß an Eigeninitiative zur Erlangung staatlicher Unterstützung bei der Versorgung und Unterbringung zuzumuten ist, so dass in diesen Fällen kein generelles Erfordernis einer konkret-individuellen Zusicherung Italiens zur Unterbringung besteht.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C.163/17 Jawo gg. Deutschland - asyl.net: M27096)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, systemische Mängel, Kind, Kleinkind, besonders schutzbedürftig, Zusicherung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, RL 2013/32/EU Art. 20 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Vor diesem Hintergrund ergeben sich keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Unterbringung und Versorgung der anerkannt Schutzberechtigten derart eingeschränkt ist, dass das System solche Schwachstellen offenbart, die unter Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GR-Charta fallen. Über die Versorgung im SIPROIMI hinaus ist von anerkannt Schutzberechtigten grundsätzlich zu erwarten, dass sie im schutzgewährenden Staat eine eigene Wohnung anmieten. Sollte ihnen dies - etwa in der Anfangszeit - nicht gelingen oder sollte ihr Recht auf Unterbringung in einem SIPROMI abgelaufen bzw. "verwirkt" sein, sind sie auch auf die in Italien tätigen kommunalen, karitativen und kirchlichen Einrichtungen, Obdachlosenunterkünfte sowie auf Nichtregierungsorganisationen zu verweisen, die ebenfalls Unterkünfte für anerkannte Schutzberechtigte bereitstellen (s.o., vgl. Länderinformationsblatt a.a.O., S. 21; borderline-europe, Menschenrechte ohne Grenze e.V., Stellungnahme zu der derzeitigen Situation von Geflüchteten in Italien mit besonderem Blick auf die Unterbringung vom 3. Mai 2019, S. 2). In den Städten Italiens bieten mehrere Einrichtungen (Not-) Unterkünfte für Migranten an, die insbesondere an jene Migranten gerichtet sind, die sich außerhalb des Aufnahmesystems bewegen oder in dasselbe nicht zurückkehren können (Juma Map, www.jumamap.com/). Zum Teil richten sich die Angebote an spezifische Personengruppen (z.B. an Frauen, Männer, Ältere, Minderjährige oder Mütter mit ihren Kindern, vgl. www.caritasroma.it/attivita/nel-territorio/accoglienza/, www.jumamap.com/ana/map/dormitori/all).http://www.jumamap.comla

Sozialer Wohnungsbau ist Italien zwar nur wenig verbreitet; dennoch gibt es diesen auch in Italien. Nach Angaben von Hilfsorganisationen besteht in Mailand nach fünf Jahren Aufenthalt in Italien ein Anspruch auf eine Sozialwohnung, wobei die Wartelisten lang seien. In Rom bestehe nach etwa sieben Jahren Zugang zu einer Sozialwohnung (SFH Januar 2020, S. 62).

Danach ist davon auszugehen, dass die Kläger in Italien eine Unterkunft finden und nicht etwa mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer existenzbedrohenden Obdachlosigkeit ausgesetzt sein werden. Dafür, dass die genannten Möglichkeiten nicht ausreichen würden, ihnen einen Unterkunftsplatz zu verschaffen und ihnen damit unabhängig vom ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Obdachlosigkeit drohen würde, ist nichts ersichtlich. So waren in Italien im Jahr 2017 zwar 10.000 Asylbewerber und anerkannt Schutzberechtigte obdachlos oder lebten in informellen Siedlungen (vgl. Ärzte ohne Grenzen e.V., 8. Februar 2018, "10.000 Geflüchtete leben in menschenunwürdigen Bedingungen", Pressemitteilung). Bei 354.698 Asylbewerbern und Schutzberechtigten am Ende des Jahres 2017 (vgl. UNHCR Statistik zu den Zahlen von Asylbewerbern und Schutzberechtigten in Italien) bedeutet dies jedoch, dass nur etwa 2,8 % der Asylbewerber und anerkannt Schutzberechtigten nicht in regulären Unterkünften lebten. Anhaltspunkte dafür, dass sich der Anteil der Asylbewerber und anerkannt Schutzberechtigten, die obdachlos sind oder in informellen Siedlungen leben, wesentlich erhöht hätte, sind nicht ersichtlich. Daher begründet auch die Versorgung der anerkannt Schutzberechtigten mit Wohnraum nicht die Annahme systemischer Schwachstellen, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen.

d) Die anerkannt Schutzberechtigten haben auch in Italien einen effektiven Zugang zu einer den Anforderungen der Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta genügenden medizinischen Versorgung. [...]

e) Nach alledem droht auch im vorliegenden Einzelfall der Kläger - einer alleinerziehendem Mutter mit einem Kind im Alter von 3 Jahren - keine Lage extremer materieller Not.

Zwar gehören Familien mit Kleinkindern und Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern zu den in Art. 20 Abs. 3 der Anerkennungsrichtlinie aufgeführten schutzbedürftigen Personengruppen, deren spezielle Situation von den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist, jedoch vermag die Kammer nicht festzustellen, dass ihnen in Italien gerade aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit und unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde (vgl. zum Maßstab: EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C -163/17 -, Rn. 92, 95, a.a.O.). Die seitens des Klägerbevollmächtigten zusätzlich geltend gemachte Vergewaltigung der Klägerin zu 1) erfüllt indes kein Vulnerabilitätskriterium.

Den genannten Personengruppen droht bereits keine Situation materieller Not. Ausgehend vom bereits dargestellten Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ist das Gericht der Überzeugung, dass sie sowohl in den Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbegehrende ("prima accoglienza" als auch - wie vorliegend nach der Gewährung internationalen Schutzes - in den sekundären Aufnahmeeinrichtungen (früher "SPRAR", nunmehr "SIPROIMI") angemessen untergebracht werden können. In beiden Unterbringungsformen werden die oben bereits dargestellten, umfangreichen Leistungen erbracht (vgl. zu Vorstehendem: Länderinformationsblatt a.a.O., S. 7). Diese gehen in ihrem Umfang deutlich über die zur Sicherung der Grundbedürfnisse erforderlichen Leistungen hinaus, denn den Asylbegehrenden werden nicht nur die Unterkunft, Waschgelegenheiten und Nahrung gestellt, sondern auch - wie bereits ausgeführt - Sozialbetreuung, Transportdienste, Schulbedarf u.ä. angeboten. Zudem haben auch neugeborene Kinder Zugang zur medizinischen Versorgung, sofern ihre Eltern im Gesundheitssystem registriert sind. Auch ist vorgesehen, dass in allen Aufnahmeeinrichtungen die Familieneinheit gewahrt werden soll.

Des Weiteren geht die Kammer davon aus, dass Familien mit Kleinkindern und Alleinerziehende nach ihrer Rückführung nach Italien zeitnah eine derartige angemessene Unterkunft erhalten, ohne dass ihnen zwischenzeitlich Obdachlosigkeit und extreme materielle Not drohen würden. Im Falle von Familien mit Kleinst- bzw. Kleinkindern, Alleinerziehenden und Schwangeren greifen insoweit nämlich besondere Mechanismen, denn ihre Vulnerabilität ist in jeder Phase des Verfahrens, d.h. auch bei der Entscheidung über die Unterbringung, zu berücksichtigen und hat zur Folge, dass ihr Zugang zu angemessener medizinischer und psychologischer Versorgung und Betreuung sicherzustellen ist (vgl. Länderinformationsblatt a.a.O., S. 14).

Darüber hinaus ist vulnerablen Personen ebenso wie sonstigen Asylbegehrenden ein gewisses Maß an Eigeninitiative zumutbar, denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - a.a.O., Rn. 95) liegt auch insoweit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nur vor, wenn den Betreffenden unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen" eine Situation extremer materieller Not droht. Dies ist nach Auffassung der Kammer nicht der Fall, wenn Asylbegehrende es durch eigene Entscheidungen und Handlungen in der Hand haben, ihre Situation zu verbessern. Hiervon ausgehend kann sowohl von Familien mit Kleinkindern, wie auch von Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern erwartet werden, dass sie eigene Anstrengungen unternehmen, um einen Unterbringungsplatz zu bekommen, zu diesem Zweck an die zuständigen Behörden herantreten und hier ihre Vulnerabilität geltend machen. Hierbei geht das Gericht unter Zugrundelegung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens, dem im europäischen Asylsystem fundamentale Bedeutung zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C 297/17 u.a. -, a.a.O.), und mangels entgegenstehender stichhaltiger Erkenntnisse davon aus, dass nach der Umstrukturierung des italienischen Aufnahmesystems die besondere Schutzbedürftigkeit vulnerabler Personen tatsächlich Berücksichtigung findet, sobald eine staatliche Stelle hiervon Kenntnis erlangt. Zudem ist es den betroffenen Personen möglich sich im Vorfeld über die insoweit erforderlichen Abläufe sowie die Aufnahmebedingungen zu informieren. Die insoweit unter Umständen erforderliche Mitwirkung ist den betreffenden Personen auch zumutbar. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass auch im deutschen Asylverfahren grundsätzlich kein Transfer der Asylbegehrenden von der Grenze bzw. bei einer Einreise über den Luftweg vom Flughafen aus zur zuständigen Aufnahmeeinrichtung, vorgesehen ist. Vielmehr sind Asylbegehrende verpflichtet, Weiterleitungsverfügungen (§ 19 Abs. 1 AsylG) der Bundespolizei, Landespolizei oder Ausländerbehörden Folge zu leisten und sich in Eigenregie sowie grundsätzlich auf eigene Kosten zu der bezeichneten Aufnahmeeinrichtung zu begeben (§ 20 Abs. 1 AsylG; vgl. hierzu: BeckOK AuslR/Haderlein, 21. Ed. 1. Februar 2019, AsylG § 20 Rn. 3).

Sofern es in Italien trotz Mitwirkung der Asylbegehrenden und Schutzberechtigten in Einzelfällen zu zeitlichen Verzögerungen bei der Unterbringung in staatlichen Einrichtungen kommen sollte, ist die Kammer der Überzeugung, dass diese unter Aufbringung eines Mindestmaßes an Eigenengagement sowie gegebenenfalls unter Zuhilfenahme nichtstaatlicher Organisationen und von Polizeibehörden vor Ort auch von vulnerablen Personengruppen überwunden werden können. Speziell in Notfällen kann auf die von nichtstaatlicher Seite bereitgestellten Unterkünfte zurückgegriffen werden (vgl. Länderinformationsblatt a.a.O., S. 21). [...]

Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin zu 1) aufgrund aktueller körperlicher oder sonstiger Beeinträchtigungen - abweichend vom oben dargestellten Grundsatz - nicht dazu in der Lage wäre, die benannten staatlichen wie auch nichtstaatlichen Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen, sind weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 2) das dritte Lebensjahr bereits vollendet hat und daher weniger verwundbar ist als ein Säugling bzw. ein Kleinst- oder Kleinkind (hierzu EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 - Tarakhel ./. Schweiz, juris; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 939/14 -, juris Rn. 16).

Mithin bedarf es auch keiner konkret-individuellen Zusicherung der italienischen Behörden. Eine derartige Garantieerklärung ist - wenn überhaupt - nur dann einzuholen, wenn es sich um besonders schutzbedürftige Personen handelt und - anders als hier - konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Drittstaat, den besonderen Bedürfnissen dieser Personen nicht in ausreichendem Umfang Rechnung trägt, oder aber generell eine Situation vorliegt, in welcher der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ernsthaft erschüttert worden ist (vgl. OVG RP, Beschluss vom 10. September 2019 - 13 A 10993/19.OVG -, nicht veröffentlicht). Letzteres ist wie eingangs dargestellt indes nicht der Fall. [...]