OVG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 10.07.2019 - 1 Bs 122/19 - asyl.net: M27980
https://www.asyl.net/rsdb/M27980
Leitsatz:

Zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals der "außergewöhnlichen Härte" i.S.v. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Lichte von Art. 3 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Unionsbürger, Drittstaatsangehörige, Sonstige Familienangehörige, Aufenthaltsrecht, außergewöhnliche Härte, unerlaubter Aufenthalt, Familienzusammenführung,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1, RL 2004/38/EG Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

16 In seiner neuen Rechtsprechung formuliert der Europäische Gerichtshof nunmehr aber selbst Kriterien, die in eine aufenthaltsrechtliche Würdigung einzubeziehen sind und die unter bestimmten Voraussetzungen zur Folge haben, dass "grundsätzlich die Gewährung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt (...) als Familienangehöriger eines Unionsbürgers" zu gewähren ist (vgl. EuGH, Urt. v.  26.3.2019, C-129/18 [Kafala], juris Rn. 71). Danach ist Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 lit. a) der Freizügigkeitsrichtlinie mit Blick auf Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta auszulegen und deshalb einerseits zu prüfen, welche Folgen die Gewährung bzw. Vorenthaltung eines Aufenthaltsrechts für das Kindeswohl hat, und andererseits zu berücksichtigen, ob zwischen einem Kind und seinem Familienangehörigen eine Beziehung besteht, die unter den Begriff des Familienlebens i.S.v. Art. 8 EMRK fällt. Es ist vor diesem Hintergrund eine ausgewogene und sachgerechte Würdigung aller aktuellen und relevanten Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung sämtlicher in Rede stehenden Interessen, insbesondere des Wohls des betreffenden Kindes, vorzunehmen (vgl. EuGH, a.a.O., juris Rn. 65 ff.). [...]

21 (2) Liegt danach eine außergewöhnliche Härte i.S.v. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG schon nicht vor, wenn dieser Begriff im Lichte des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie und vor dem Hintergrund der hierzu ergangenen (neuen) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs interpretiert wird (hierzu [1]), so gilt (erst recht) nichts anderes, wenn dieser weitergehende Blickwinkel außer Betracht gelassen wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfasst § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG "seltene Ausnahmefälle (...), in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre". Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt danach grundsätzlich voraus, "dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann" (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.7.2013, 1 C 15.12, BVerwGE 147, 278, juris Rn. 11 f.). [...]