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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 04.12.2019 - 2 BvR 1600/19 - Asylmagazin 3/2020, S. 85 f. - asyl.net: M27958
https://www.asyl.net/rsdb/M27958
Leitsatz:

Mögliche Verfolgung wegen Homosexualität in Pakistan ist im Folgeverfahren zu prüfen:

1. Für die Zulässigkeit eines Asylfolgeantrags genügt der glaubhafte und substantiierte Vortrag hinsichtlich der Änderung der Verhältnisse im Herkunftsland oder der das persönliche Schicksal bestimmenden Umstände. Keine Rolle spielt es, ob der neue Vortrag tatsächlich zutrifft, denn dies muss in einem neuen, mit den Verfahrensgarantien des AsylG ausgestatteten Asylverfahren beurteilt werden.

2. Die Frage, ob Männern in Pakistan wegen ihrer Homosexualität staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung droht, ist weder höchstrichterlich geklärt noch in der Rechtsprechung einheitlich beurteilt. Eine dahingehende Klärung muss im Asylfolgeverfahren erfolgen und darf nicht in die Entscheidung über die Zulässigkeit des Folgeantrags verlagert werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, homosexuell, Asylfolgeantrag, Verfassungsbeschwerde, effektiver Rechtsschutz, Zulässigkeit,
Normen: AsylG § 71 Abs. 3 S. 3, VwVfG § 51 Abs. 3, GG Art. 19 Abs. 4 S. 1, BVerfGG § 93c Abs. 1 S. 1, BVerfGG § 93a Abs. 2,
Auszüge:

[...]

a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet nicht nur, dass jeder potentiell rechtsverletzende Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist. Vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Rechten auch tatsächliche Wirkung verschaffen (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 67, 43 <58>; 84, 34 <49>; stRspr).

Geht es in einem fachgerichtlichen Verfahren um die Frage, ob ein Folgeantrag gemäß § 71 AsylG wegen einer nachträglichen Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen zulässig ist, genügt es, wenn der Asylbewerber eine Änderung der allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder der sein persönliches Schicksal bestimmenden Umstände im Verhältnis zu der der früheren Asylentscheidung zugrunde gelegten Sachlage glaubhaft und substantiiert vorträgt. Es genügt mithin schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. März 1993 - 2 BvR 1988/92 -, Rn. 23, vom 11. Mai 1993 - 2 BvR 2245/92 -, Rn. 22 und vom 3. März 2000 - 2 BvR 39/98 -, Rn. 32; Dickten, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 23. Edition, Stand 01.08.2019, § 71 AsylG Rn. 18).

Nicht von Bedeutung ist, ob der neue Vortrag im Hinblick auf das glaubhafte persönliche Schicksal des Antragstellers sowie unter Berücksichtigung der allgemeinen Verhältnisse im angeblichen Verfolgerland tatsächlich zutrifft, die Verfolgungsfurcht begründet erscheinen lässt und die Annahme einer relevanten Verfolgung rechtfertigt. Diese Prüfung hat im Rahmen eines neuen, mit den Verfahrensgarantien des Asylgesetzes ausgestatteten materiellen Anerkennungsverfahrens zu erfolgen. Lediglich wenn das Vorbringen des Antragstellers zwar glaubhaft und substantiiert, jedoch von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, zur Asylberechtigung beziehungsweise zur Zuerkennung internationalen Schutzes zu verhelfen, darf der Folgeantrag als unzulässig abgelehnt beziehungsweise die Unzulässigkeitsentscheidung gerichtlich bestätigt werden (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. März 1993 - 2 BvR 1988/92 -, Rn. 23, vom 11. Mai 1993 - 2 BvR 2245/92 -, Rn. 22 und vom 3. März 2000 - 2 BvR 39/98 -, Rn. 32).

b) Dies zugrunde gelegt, halten die Erwägungen, mit denen das Verwaltungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens verneint hat, einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Durch die Annahme, eine für den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung erscheine nicht einmal möglich, hat das Verwaltungsgericht den Anwendungsbereich der Unzulässigkeitsentscheidung beim Folgeantrag unter Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes überdehnt.

aa) Das Verwaltungsgericht hat es in den angegriffenen Beschlüssen offen gelassen, ob die Homosexualität des Beschwerdeführers glaubhaft ist und ob die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG einem Wiederaufgreifen des Verfahrens entgegensteht. Es hat die Bestätigung der Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes ausschließlich darauf gestützt, dass jedenfalls keine Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung für den Beschwerdeführer bestehe, weil ihm in Pakistan keine Verfolgung wegen seiner Homosexualität drohe.

Dies wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen, nach denen ein Folgeantrag nach § 71 AsylG nur dann als unzulässig abgelehnt beziehungsweise die behördliche Unzulässigkeitsentscheidung gerichtlich bestätigt werden darf, wenn das Folgeantragsvorbringen von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, zur Asylberechtigung beziehungsweise zur Zuerkennung internationalen Schutzes zu verhelfen, nicht gerecht.

Die Frage, ob homosexuelle Männer in Pakistan von staatlicher oder nichtstaatlicher Verfolgung bedroht sind, ist weder höchstrichterlich geklärt noch wird sie in der Rechtsprechung einheitlich beurteilt (Bejahung von Verfolgung: VG Trier, Urteil vom 23. November 2017 - 2 K 9945/16.TR -, juris; VG Freiburg, Urteil vom 5. Oktober 2017 - A 6 K 4389/16 -, S. 14; VG Hannover, Urteil vom 14. November 2018 - 11 A 5244/17 -, juris; VG Berlin, Urteil vom 28. Juni 2018 - VG 6 K 1614.16.A -, S. 14; VG Potsdam, Urteil vom 21. März 2017 - VG 11 K 250/15.A -, S. 15; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14. Oktober, 2016 - 2a K 5150/16.A -, juris; VG Augsburg, Urteil vom 31. Oktober 2014 - Au 3 K 14.3022 -, juris; Verneinung von Verfolgung: VG München, Urteil vom 18. Oktober 2018 - M 10 K 17.30550 -, juris; VG Oldenburg; Urteil vom 20. März 2017 - 5 A 3921/15 -, MiLO; VG Cottbus, Urteil vom 2. August 2018 - 4 K 726/18.A. -, juris).

Die Klärung, ob die - unstreitig existierende - staatliche und nichtstaatliche Verfolgung und Diskriminierung von Homosexuellen in Pakistan eine hinreichende Verfolgungsdichte erreicht, um die Regelvermutung eigener Verfolgung zu rechtfertigen, muss im wiederaufzunehmenden Asylverfahren stattfinden. Der vom Verwaltungsgericht aufgestellte Obersatz, Voraussetzung für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG sei, dass sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert habe oder neue Beweismittel vorlägen, "die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden", geht fehl.

bb) Die Bestätigung der Unzulässigkeit des Asylfolgeantrags im gerichtlichen Eilverfahren bringt für den Beschwerdeführer erhebliche verfahrensrechtliche Nachteile mit sich (Entbehrlichkeit einer persönlichen Anhörung gemäß § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylG; Vollziehbarkeit der Abschiebung ab der Unzulässigkeitsentscheidung bzw. deren gerichtlicher Bestätigung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gemäß § 74 Abs. 4, 5 AsylG). Auch dieser Umstand steht einer weitgehenden Verlagerung der Bewertung einer unklaren Tatsachenlage in die Entscheidung über die Frage, ob ein Folgeverfahren durchzuführen ist, entgegen. [...]