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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 11.09.2019 - 1 C 48.18 - asyl.net: M27920
https://www.asyl.net/rsdb/M27920
Leitsatz:

Recht auf Freizügigkeit für arbeitslos gewordene Unionsbürger*innen bei Schulbesuch der Kinder:

"Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 vermittelt den Kindern eines (vormaligen) Wanderarbeitnehmers und deren die tatsächliche Sorge ausübenden Elternteilen nicht nur ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme, sondern auch auf Freizügigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Unionsbürger, Schulbesuch, Sicherung des Lebensunterhalts, EU-Staatsangehörige, Schulpflicht, Wanderarbeitnehmer, Arbeitnehmer, Eltern-Kind-Verhältnis,
Normen: FreizügG/EU § 2 Abs. 1, VO 492/11 Art. 10 Abs. 1, FreizügG/EU § 5 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

3. Die angegriffene Verlustfeststellung für den von ihr noch erfassten Zeitraum von Juni bis August 2013 ist aber auch dann mit § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU unvereinbar und aufzuheben, wenn eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU nachträglich auf bestimmte Zeiträume beschränkt werden 15 kann und in diesem Sinne zeitlich teilbar ist. Denn die Klägerinnen waren in diesem - dann für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen - Zeitraum zwischen dem Erlass der Verlustfeststellung und dem Eintritt ihrer neuerlichen Freizügigkeitsberechtigung gemäß Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 aufenthaltsberechtigt (a) und damit im Sinne des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (b).

a) Das Oberverwaltungsgericht hat in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise angenommen, dass die Klägerinnen in dem betreffenden Zeitraum des Jahres 2013 gemäß Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt waren.

aa) Gemäß Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Die Norm begründet zuvörderst ein Recht auf Gleichbehandlung (stRspr, vgl. EuGH, Urteil vom 27. September 1988 - C-42/87 [ECLI:EU:C:1988:454], Kommission/Königreich Belgien - Rn. 10). Aus dem Recht zur Teilnahme am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung folgt zugleich ein eigenständiges (EuGH, Urteil vom 13. Juni 2013 - C-45/12 [ECLI:EU:C:2013:390], Hadj Ahmed - Rn. 46), originäres (Franzen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 45 AEUV Rn. 143) und autonomes (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - C-310/08 [ECLI:EU:C:2010:80], Ibrahim - Rn. 41 f.) Recht der Kinder des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme. Ein entsprechendes Recht vermittelt Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zudem dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die betreffenden Kinder tatsächlich wahrnimmt, ohne dass dieser die in der Richtlinie 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen erfüllen muss (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - C-480/08 [ECLI:EU:C:2010:83], Teixeira - Rn. 61). Dieser Elternteil kann auch der vormalige Wanderarbeitnehmer selbst sein. Das Aufenthaltsrecht ist der Förderung der Inanspruchnahme des Rechts der Kinder auf Teilnahme am allgemeinen Unterricht zu dienen bestimmt und besteht auch nach dem Ende der Erwerbstätigkeit des Wanderarbeitnehmers fort (stRspr, vgl. EuGH, Urteil vom 17. September 2002 -  C-413/99 [ECLI:EU:C:2002:493], Baumbast und R - Rn. 73 ff.). Es endet regelmäßig mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes, sofern dieses nicht ausnahmsweise weiterhin der Anwesenheit und Fürsorge dieses Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - C-480/08 - Rn. 86 f.). Adressat des den Kindern eines Wanderarbeitnehmers und deren die tatsächliche Sorge ausübenden Elternteile aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 erwachsenen Aufenthaltsrechts ist allein der Aufnahmestaat des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers, nicht hingegen auch jeder andere Mitgliedstaat der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 27. September 1988 - C-263/86 [ECLI:EU:C:1988:451], Humbel und Edel - Rn. 24 f.).

bb) Die Klägerinnen zu 2 und 3 wie auch die Klägerin zu 1 waren hiernach in dem streitgegenständlichen Zeitraum des Jahres 2013 nach Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt.

(1) Die Klägerinnen zu 2 und 3 sind Kinder einer Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union. Ihre Mutter, die Klägerin zu 1, ist wie sie polnische Staatsangehörige. Die Klägerin zu 1 war Wanderarbeitnehmerin, da sie im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats in einem bestimmten Zeitraum im Rahmen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbrachte, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhielt. [...] Die Klägerinnen zu 2 und 3 nahmen nach ihrer Einreise Wohnung bei der Klägerin zu 1 und behielten ihren Wohnsitz auch während der nichtselbstständigen Erwerbstätigkeit ihrer Mutter bei. [...]

(2) Als Elternteil, welcher in dem streitgegenständlichen Zeitraum die elterliche Sorge für die Kinder des Wanderarbeitnehmers tatsächlich wahrnahm, vermittelte Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 auch der Klägerin zu 1 ein Aufenthaltsrecht.

b) Die Klägerinnen besaßen in dem streitgegenständlichen Zeitraum des Jahres 2013 ein "Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU" im Sinne des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU, da Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 den Normadressaten nicht nur ein Aufenthaltsrecht, sondern auch ein Freizügigkeitsrecht vermittelt (dazu aa). Auch ein solches, nicht aus der Richtlinie 2004/38/EG folgendes Freizügigkeitsrecht wird von § 2 Abs. 1 FreizügG/EU erfasst und hindert damit eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU (dazu bb).

aa) Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 vermittelt den Kindern eines (vormaligen) Wanderarbeitnehmers und deren die tatsächliche Sorge ausübenden Elternteilen nicht nur ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme, sondern auch auf Freizügigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (ebenso BSG, Urteile vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 43/15 R - BSGE 120, 139 Rn. 27 und vom 12. September 2018 - B 14 AS 18/17 R - juris Rn. 24).

Die Norm und die sich daraus ergebenden Rechte sind nach Maßgabe des Aufbaus und des Zwecks dieser Verordnung auszulegen (vgl. EuGH, Urteil vom 17. September 2002 - C-413/99 - Rn. 68).

Gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Unionsbürger ist gemäß Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Der Unionsbürgerstatus ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (stRspr, vgl. EuGH, Urteil vom 20. September 2001 - C-184/99 [ECLI:EU:C:2001:458], Grzelczyk - Rn. 30 f.). Das Recht des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten, wird jedem, der unter den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, unabhängig von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder dergleichen seitens des Aufnahmestaats unmittelbar im primären Unionsrecht oder, je nach Sachlage, in den zu dessen Umsetzung ergangenen Bestimmungen gewährt (EuGH, Urteil vom 8. April 1976 - C-48/75
[ECLI:EU:C:1976:57], Royer - Rn. 31 ff.). [...]

bb) Das durch Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 begründete Freizügigkeitsrecht wird von § 2 Abs. 1 FreizügG/EU erfasst und steht damit einer Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU entgegen.

Das Freizügigkeitsgesetz/EU dient der Umsetzung primären und sekundären Unionsrechts und bezieht sich nicht nur auf die in der Richtlinie 2004/38/EG zusammengefassten, sondern auf sämtliche sich aus dem Unionsrecht ergebenden Freizügigkeitsrechte (BT-Drs. 15/420 S. 102). Der Aufzählung in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU kommt insoweit nur eine deklaratorische Bedeutung zu. Wer freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger oder dessen Familienangehöriger ist, bestimmt mit konstitutiver Wirkung allein das Unionsrecht (vgl. EuGH, Urteile vom 8. April 1976 - C-48/75 - Rn. 31 ff. und vom 7. Juli 1976 - C-118/75 [ECLI:EU:C:1976:106], Watson und Bellmann - Rn. 11 ff.). Freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU sind somit auch solche unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigten Personen, die nicht oder nur unzureichend von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU erfasst werden (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand August 2019, § 2 FreizügG/EU Rn. 1). Dafür spricht ganz wesentlich die Regelung des § 7 Abs. 1 FreizügG/EU, nach der eine Verlustfeststellung die Ausreisepflicht des betroffenen Unionsbürgers bzw. Familienangehörigen eines Unionsbürgers begründet. Der anderenfalls entstehende Widerspruch zwischen einer kraft Gesetzes eintretenden Ausreisepflicht und einem gleichwohl kraft Unionsrechts bestehenden Freizügigkeitsrecht wird vermieden, wenn alle unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechte von § 2 Abs. 1 FreizügG/EU als erfasst angesehen werden.

Der grundsätzlichen Einbeziehung des neben der Richtlinie 2004/38/EG stehendenden Freizügigkeitsrechts aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 in den Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU steht - anders als der Beklagte meint - auch nicht entgegen, dass Aufenthaltszeiten, die allein auf der Grundlage eines Aufenthaltsrechts aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zurückgelegt wurden, für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU nicht berücksichtigt werden können (EuGH, Urteil vom 8. Mai 2013 - C-529/11 [ECLI:EU:C:2013:290], Alarape und Tijani - Rn. 48). Die Möglichkeit einer Feststellung des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU erlischt mit dem Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts knüpft an das Vorliegen einer Freizügigkeitsberechtigung im Sinne der Freizügigkeitsrichtlinie an. Nach Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Rechtmäßig im Sinne dieser Norm ist indes nur ein Aufenthalt, der im Einklang mit den in der Richtlinie 2004/38/EG und insbesondere mit den in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG aufgeführten Voraussetzungen steht (BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 22.14 - Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr. 4 Rn. 16). Daher kann ein zwar im Einklang mit dem Recht eines Mitgliedstaats stehender Aufenthalt, der jedoch nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG erfüllt, nicht als "rechtmäßiger" Aufenthalt im Sinne des Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EG angesehen werden. Zeiten, in denen sich der Familienangehörige eines Unionsbürgers allein auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 in dem Mitgliedstaat aufhält, sind zwar für den Erwerb des Rechts uf Daueraufenthalt im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG nicht zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 8. Mai 2013 - C-529/11 - Rn. 39 f. und 48), stehen indes der Annahme einer Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht entgegen. [...]