VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 28.10.2019 - 1 A 1043/17 HAL - asyl.net: M27905
https://www.asyl.net/rsdb/M27905
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für jungen, arbeitsfähigen Mann, der sich der Zwangsrekrutierung durch die Taliban entzogen hat:

1. Auch bei einem arbeitsfähigen Mann mit Schulbildung kann davon ausgegangen werden, dass er sein Existenzminimum bei Rückkehr nach Afghanistan nicht erwirtschaften können wird, wenn er nicht über ein familiäres Netzwerk verfügt, noch sehr jung ist und in Afghanistan keinen Beruf erlernt hat.

2. Zudem besteht derzeit in Afghanistan für junge Männer, die sich einer Zusammenarbeit mit der Taliban oder einer Zwangsrekrutierung durch diese entzogen haben oder mit "Ungläubigen" zusammenarbeiten, indem sie deren Schule besuchen, die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, unbegleitete Minderjährige, Volljährigkeit, Taliban, Existenzminimum, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot, Abschiebungsverbot, Folgeantrag,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AsylG § 71,
Auszüge:

[...]

Vorliegend ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls bei dem Kläger nicht davon auszugehen, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan selbst ohne Vermögen und ohne familiären Rückhalt vor Ort in der Lage wäre, in seiner Heimatregion oder in einer unter Regierungskontrolle stehenden Großstadt durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Arbeitseinkommen zu erzielen und sich damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren. Es kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass dem Kläger ein stabiler und aufnahmefähiger Familienverband mit einen Patronage-Netzwerk und Zugang zu Ressourcen in Afghanistan zur Verfügung steht. Denn der Verweis auf familiäre Unterstützung ist nach den Erkenntnismitteln nur möglich, wenn die Prüfung ergibt, dass eine solche Unterstützung voraussichtlich gewährt werden wird und die Familienangehörigen zur Unterstützung auch in der Lage sind. Dies ist vorliegend nicht gegeben. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung insoweit glaubhaft vorgetragen, dass seine Eltern schon lange verstorben seien und der Kontakt zum Onkel abgebrochen sei. Zudem gehe er davon aus, dass sein Onkel nicht mehr bereit sei, ihn zu unterstützen, da ihm nunmehr nach vier Mädchen ein Sohn geboren sei. Damit erscheint eine familiäre Unterstützung des Klägers mehr als fraglich.

Die Sicherung seines Existenzminimums wird deshalb voraussichtlich in besonderem Maße von seiner Eigeninitiative, Durchsetzungsfähigkeit und der Fähigkeit, in kleinem Kreise ein soziales Netzwerk zu knüpfen, abhängen. Der Kläger hat zwar den überwiegenden Teil seines Lebens in Afghanistan verbracht, er hat dort auch eine Schule besucht, aber noch keinen Beruf erlernt. Erschwerend ist für den Kläger zu berücksichtigen, dass er in Afghanistan nie außerhalb seines Familienverbundes gelebt hat. Er musste in Afghanistan noch keine Strategien für ein wirtschaftliches Überleben entwickeln und erfolgreich umsetzen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass es dem noch sehr jungen Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht oder nur erheblich erschwert gelingen wird, auf dem hart umkämpften Arbeits- und Wohnungsmarkt erfolgreich in Konkurrenz zu anderen Bewerbern zu treten und sich somit sein Auskommen zu sichern.

Hinzu kommt, dass der Kläger nach einem fast vierjährigen Aufenthalt in Europa noch schwieriger eine Gelegenheitstätigkeit finden dürfte, als einheimische Einwohner. Rückkehrer sehen sich dem generellen Verdacht [gegenüber] ausgesetzt, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben. Vielfach wird ihnen Kollaboration mit dem westlichen Ausland vorgeworfen. Auch jemanden eine Wohnung oder Arbeit zu geben, dem Verrat seines Landes, seiner Religion oder Kollaboration mit dem Feind vorgeworfen wird, kann Gefahren für die potenziellen Wohnungs- oder Arbeitgeber nach sich ziehen. Aufgrund der vielen Arbeits- und Wohnungsuchenden dürfte hiervon dann Abstand genommen werden (vgl. Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltags Afghanistan, Asylmagazin 3/2017, S. 82, 89). Der Kläger könnte auch nicht verheimlichen, dass er aus der Bundesrepublik Deutschland in sein Heimatland zurückgekehrt ist. Grund dafür ist, dass sich Fremde nach der afghanischen Lebenswirklichkeit in ihrem neuen sozialen Umfeld glaubwürdig identifizieren müssen. Diese Überprüfungen haben im Zuge des Bürgerkriegs und aufbauend auf der Erfahrung, dass jede vertraute Person zum Feind werden kann, in den letzten Jahren neue Dimensionen erlangt. Es werden von der neuen Umgebung zu deren eigenem Schutz nun auch die Biografien der einzelnen Personen, ihre Beziehungen und Kontakte sowie Abhängigkeiten und Feindschaften überprüft, um einschätzen zu können, ob der neue Nachbar Beziehungen zu kriminellen Banden hat oder ob er für oder gegen die Taliban arbeitet (vgl. Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltags Afghanistan, Asylmagazin 3/2017, S. 82, 88 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westemised" returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05. Dezember 2017 - A 11 S 1144/17 -, juris Rn. 426).

Allein die Schulausbildung und seine Eigenschaft als arbeitsfähiger Mann sind daher aufgrund der Vielzahl an vorgenannten Hindernissen für dessen Eingliederung in die afghanische Gesellschaft und für ein ausreichendes Erwerbseinkommen in Afghanistan nicht ausreichend, um von einem Zugang zu den für ein Existenzminimum erforderlichen elementaren Bedürfnissen bei erstmaliger Einreise nach Afghanistan auszugehen.

Weiter droht dem Kläger bei einer Rückführung nach Afghanistan auch durch die Taliban eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK.

Denn unter Berücksichtigung der Iris Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen besteht zurzeit in Afghanistan für junge Männer, die sich einer Zusammenarbeit mit den Taliban oder einer Zwangsrekrutierung durch diese entzogen haben oder nur mit "Ungläubigen" zusammenarbeiten, indem sie deren Schule besuchen, die konkrete Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden. [...]

Aufgrund der aktuellen Lage, welche sich aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergibt, besteht für junge Männer, die sich einer Kooperation mit den Taliban oder einer Zwangsrekrutierung einzogen haben, eine beachtliche Gefahr von Verfolgungshandlungen. [...]

Die Taliban betrachten es aufgrund der religiösen Legitimierung ihres Herrschaftsanspruchs als einen Abfall vom Islam und somit als besonders schweres, todeswürdiges und nicht verjährendes Verbrechen, wenn jemand anstatt mit ihnen mit Ungläubigen zusammenarbeitet, in dem er z.B. deren Schule besucht oder sich einer Zusammenarbeit entzieht. Ein Rückkehrer muss daher auch nach jahrelanger Abwesenheit damit rechnen, deswegen zur Verantwortung gezogen und wahrscheinlich getötet oder jedenfalls schwerwiegenden Körperstrafen wie etwa dem Brechen von Beinen und Händen und der Verätzung von Augen und Gesichtshaut mit Säure unterzogen zu werden (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 28. Juli 2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 17 m.w.N.).

Der afghanische Staat kann den Kläger auch nicht vor einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung durch die Taliban schützen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Oktober.2016, S. 4, 17; Lagebeurteilung vom 28. Juli 2017, Rn. 40). [...]

Dem Kläger kann auch nicht entgegengehalten werden, dass er in einem anderen Teil seines Herkunftsstaates keine begründete Furcht vor einer unmenschlichen Behandlung bzw. ernsthaften Schaden oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaften Schaden hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Denn wie bereits oben näher dargelegt, droht dem Kläger in diesen Landesteilen eine existenzielle Gefährdung, seine Existenzgrundlage ist dort nicht gesichert, so dass von ihm nicht erwartet werden kann, dass sich dort niederlässt. [...]