VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 25.04.2019 - 16 K 4518/18 - asyl.net: M27872
https://www.asyl.net/rsdb/M27872
Leitsatz:

1. Zur bereits bei Einreise mit einem Aufenthaltstitel eines anderen EU-Mitgliedstaats (hier: permesso di soggiorno) bestehenden Absicht, sich dauerhaft in Deutschland niederzulassen; hier bejaht (Rn. 17).

2. Sind Mitglieder der Kernfamilie eines Ausländers anerkannte Flüchtlinge im Sinne von § 3 Asylgesetz (juris: AsylVfG 1992), darf die Ausländerbehörde den Ausländer nicht darauf verweisen, zur Aufrechterhaltung seiner familiären Lebensgemeinschaft mit seiner Familie in den Heimat- und Verfolgerstaat zurückzukehren (Rn. 28).

3. Eine Ausländerbehörde ist verpflichtet, Auswirkungen einer möglichen Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers auf dessen Kleinkinder festzustellen und diese bei der Entscheidung über das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte zu berücksichtigen (Rn. 31).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Kleinkind, Kindeswohl, Flüchtlingsanerkennung, familiäre Lebensgemeinschaft, außergewöhnliche Härte, Duldung, Schutz von Ehe und Familie, Visumsverfahren, Schengener Durchführungsübereinkommen, Aufenthaltserlaubnis, Europäische Union, Aufenthaltsrecht in EU-Staat,
Normen: AufenthG § 60a, AufenthG § 36 Abs. 2, AufenthG § 5 Abs. 2, GG Art. 6, SDÜ Art. 21,
Auszüge:

[...]

15 Gem. Art. 21 Abs. 1 SDÜ können sich Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einem der Mitgliedstaaten ausgestellten Aufenthaltstitels sind, aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten bewegen, sofern sie die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c und e der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (ABl. L 105 vom 13.4.2006, S. 1 – Schengener Grenzkodex – SGK a.F.) aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste des betroffenen Mitgliedstaats stehen. [...]

17 Die Anwendung des Art. 21 Abs. 1 SDÜ ist jedoch ausgeschlossen, wenn der Ausländer  schon mit der Absicht der Begründung eines Daueraufenthalts einreist (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 28. Februar 2019 – 10 ZB 18.1626 –, Rn. 12, juris; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Februar 2019 – OVG 11 S 21.18 –, Rn. 8, 11 ff., juris mit zahlreichen weiteren Nachweisen und überzeugender Argumentation). [...]

25 Eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG setzt voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (hierzu und zum Folgenden: BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15/12 –, Rn. 12, juris). Ob von einer außergewöhnlichen Härte auszugehen ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden. Bei der Anwendung dieser Definition der außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG ist jedoch der Einfluss von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK auf das deutsche Ausländerrecht zu beachten (BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2016 – 2 BvR 748/13 –, Rn. 13, juris).

26 Kleinkinder sind außerstande, ein eigenständiges Leben zu führen; sie bedürfen vielmehr ständiger Pflege und Betreuung und deshalb der Einbindung in die familiäre Lebensgemeinschaft (hierzu und zum Folgenden: vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15.12 –, Rn. 14, juris). Eine außergewöhnliche Härte liegt in diesem Fall jedoch nur dann vor, wenn diese familiäre Lebenshilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland geleistet werden kann.

27 Art. 6 Abs. 1 und 2 GG gewährt keinen unmittelbaren Aufenthaltsanspruch, verpflichtet die Ausländerbehörden jedoch, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, umfassend zu berücksichtigen (hierzu und zum Folgenden: vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15.12 –, Rn. 15, juris mit weiteren Nachweisen). Die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie drängt einwanderungspolitische Belange erst dann zurück, wenn die gelebte Familiengemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann, etwa weil besondere Umstände demjenigen Mitglied dieser Gemeinschaft, zu dem der Ausländer eine außergewöhnlich enge Beziehung hat, ein Verlassen des Bundesgebiets unzumutbar machen. Handelt es sich bei diesem Mitglied der Familiengemeinschaft um ein Kind, so ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen. Die Besonderheiten der vorliegenden familiären Konstellation müssen sorgfältig ermittelt und mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt werden. [...]

28 [...] Die Kammer ist der Ansicht, dass es den Kindern und ihrer Mutter bereits aufgrund ihrer Flüchtlingsanerkennung nicht zumutbar sein dürfte, zur Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft mit dem Antragsteller auf ihren Heimatstaat Nigeria verwiesen zu werden. Zudem fehlt jegliche Feststellung der Antragsgegnerin dazu, ob die in Italien bzw. Deutschland geborenen Kinder, die mittlerweile sechs und drei Jahre alt sind und sich niemals in Nigeria aufgehalten haben dürften, eine Aufenthaltsbeendigung verarbeiten könnten, ohne Schaden zu nehmen. Dieser Umstand stünde auch einer Annahme entgegen, die Familie könnte ihre Lebensgemeinschaft auch in Italien weiterführen, zumal fraglich erscheint, ob der Antragsteller, seine Kinder oder seine Verlobte legal nach Italien einreisen und dort einen legalen Aufenthalt begründen könnten. [...]

31 Jedoch hat es die Antragsgegnerin versäumt, hinreichend tragfähige Feststellungen dahingehend zu treffen, ob von der Nachholung des Visumsverfahrens nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden kann, weil diese aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls unzumutbar erscheint. Für die im Rahmen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG anzustellende Prognose muss konkret ermittelt werden, wie lange der familiären Gemeinschaft des Antragstellers, seiner Lebensgefährtin und der zwei Kinder eine Abwesenheit des Antragstellers zugemutet werden kann (vgl. hierzu und zum Folgenden: BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15.12 –, Rn. 26; juris). Hierfür kommt es insbesondere darauf an, wie lange ein Visumverfahren bei korrekter Sachbehandlung und ggf. unter Zuhilfenahme einstweiligen Rechtsschutzes voraussichtlich dauern würde und welche Auswirkungen eine vorübergehende Ausreise des Antragstellers für die Familie hätte, insbesondere, ob die noch (sehr) kleinen Kinder auch durch eine verfahrensbedingte Abwesenheit des Antragstellers von nur wenigen Monaten emotional unzumutbar belastet würden. Hierzu hat die Antragsgegnerin indes keinerlei Feststellungen getroffen, obwohl hier belastbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Antragsteller und seine Familie emotional eng miteinander verbunden sind. Insofern können sich die von der Antragsgegnerin angestellten Ermessenserwägungen nicht als vollständig erweisen. Darauf, ob eine andere Person – hier die Verlobte des Antragstellers – die Betreuung der Kinder während der Abwesenheit des Antragstellers übernehmen könnte, kommt es – entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin – nicht an. [...]