LSG Baden-Württemberg

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Zitieren als:
LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.05.2019 - L 7 AY 1161/19 ER-B - asyl.net: M27869
https://www.asyl.net/rsdb/M27869
Leitsatz:

Leistungskürzung für international Schutzberechtigte aus anderen EU Mitgliedstaaten:

Die Kürzung der Sozialleistungen für Asylsuchende, denen bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Schutz gewährt wurde, ist rechtmäßig. Zumindest gesunden und arbeitsfähigen Personen ist es auch zumutbar, den Schutz in Griechenland in Anspruch zu nehmen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sozialrecht, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialleistungen, Leistungskürzung, Leistungseinschränkung, Anspruchseinschränkung, internationaler Schutz in EU-Staat, Griechenland,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 4 S. 2, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Entgegen der Auffassung des Antragstellers steht einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 AsylbLG nicht die Rechtsprechung des SG Landshut (z.B. Beschluss vom 15. Februar 2019 - S 11 AY 10/19 ER - juris Rdnr. 35) entgegen. Danach müsse aus dem feststellenden Verwaltungsakt eindeutig hervorgehen, welche konkrete Pflichtverletzung Grundlage der Leistungskürzung nach § 1 a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG sei. Zwar dürfte erforderlich sein, dass die Behörde durch Verwaltungsakt über den Eintritt und die Dauer einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG entscheidet (vgl. Senatsbeschluss 18. Juni 2018 - L 7 AY 1511/18 ER-B - juris Rdnr. 9 f.; Hohm in GK-AsylbLG, Stand Oktober 2018, § 1a Rdnr. 430 m.w.N.; Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014 (Stand 11. Februar 2019), § 1a AsylbLG Rdnr. 157). Jedoch bestehen Zweifel, ob das vom SG Landshut aufgestellte Erfordernis einer hinreichenden Bestimmtheit dahingehend, dass in dem Absenkungsbescheid nach § 1a AsylbLG ein konkretes Fehlverhalten benannt werden muss, die Rechtsmäßigkeit des Absenkungsbescheids berührt. Denn das gesetzliche Bestimmtheitserfordernis des § 35 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (vgl. auch § 33 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)) verlangt, dass der Verfügungssatz eines Verwaltungsaktes nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzen muss, sein Verhalten daran auszurichten. Mithin muss aus dem Verfügungssatz für die Beteiligten vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein, was die Behörde will (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 20. Mai 2014 - 4 B 21/14 - juris Rdnr. 9; Urteil vom 27. Juni 2012 - 9 C 7/11 - juris Rdnr. 11; BSG, Urteil vom 15. Dezember 2010 - B 14 AS 92/09 R - juris Rdnr. 18). Diesen Maßstäben genügt der Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. Februar 2019, dem zwanglos zu entnehmen ist, durch wen (Antragsgegnerin) wem (Antragsteller) für welchen Zeitraum (1. Februar 2019 bis zum 30. Juni 2019) in welcher konkreten Höhe (monatlich 570,33 EUR) welche Leistungen (gekürzte Leistungen nach § 1a Abs. 4 AsylbLG) bewilligt worden sind. Auch ist aus dem Bescheid unschwer ersichtlich, in welchem Umfang die Antragsgegnerin die Grundleistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 8 und Abs. 2 Satz 2 AsylbLG abgesenkt hat (monatlich um 173,51 EUR). Auch dürfte der Bescheid der Antragsgegnerin eine hinreichende Begründung i.S.d. § 39 Abs. 1 VwVfG (§ 35 Abs. 1 SGB X) für die verfügte Anspruchseinschränkung enthalten, zumal eine Anspruchseinschränkung i.S.d. § 1a AsylbLG nicht im Ermessen der Behörde steht, sondern bei Vorliegen der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen gebundene Rechtsfolge ist.

Zwingende Rechtsfolge ist bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG, dass im Regelfall nur noch eingeschränkte Leistungen i.S.d. § 1a Abs. 2 Satz 2 AsylbLG zur Deckung der Bedarfe an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Körper- und Gesundheitspflege zu gewähren sind. Dabei handelt es sich um eine Rechtsfolgenverweisung bzgl. Inhalt und Form der abgesenkten Leistungen (Hohm in GKAsylbLG, Stand Februar 2017, § 1a Rdnr. 347 ff.). Im vorliegenden Einzelfall bestehende besondere Umstände, die ausnahmsweise nach § 1a Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 AsylbLG die Gewährung weiterer Leistungen an den Antragsteller rechtfertigen könnten, hat dieser weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die entsprechenden Leistungen zur Deckung der Bedarfe an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Körper- und Gesundheitspflege bewilligt, was auch der Antragsteller nicht in Abrede stellt.

Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen. Der Senat ist im vorliegenden Verfahren nicht von der Verfassungswidrigkeit des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG überzeugt (vgl. Senatsurteile vom 8. November 2018 - L 7 AY 4468/16 - juris Rdnrn. 47 ff. und vom 27. April 2017 - L 7 AY 4898/15 - juris Rdnr. 36 jeweils m.w.N.; Senatsbeschluss vom 8. Januar 2019 - L 7 AY 4099/18 ER-B - (n.v.); ferner Senatsbeschluss vom 3. Dezember 2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B - juris Rdnrn. 38 f. zu § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe -).

Schließlich dürften auch keine europarechtlichen Erwägungen gegen die von der Antragsgegnerin verfügte Anspruchseinschränkung sprechen. Der Antragsteller macht insbesondere systemische Mängel des Asylsystems der Hellenischen Republik geltend. Der Europäische Gerichtshof hat jüngst entschieden (Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - juris Rdnrn. 80 ff.; Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 - juris Rdnr. 85 ff.), dass im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin-III-Verordnung, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht und durch eine Rationalisierung der Anträge auf internationalen Schutz deren Bearbeitung im Interesse sowohl der Antragsteller als auch der teilnehmenden Staaten beschleunigen soll, grundsätzlich die Vermutung gelten muss, dass die Behandlung dieser Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Europäischen Menschenrechtskonvention erfolgt. In Einklang mit dieser Vermutung hat der Gesetzgeber zur Verhinderung von Sekundärmigration die Regelung des § 1a Abs. 4 AsylbLG eingefügt und die Rechtsfolge der Anspruchseinschränkung u.a. daran geknüpft, dass sich ein Leistungsberechtigter i.S.d. § 1a Abs. 1 Nr. 1 oder 5 AsylbLG trotz bestehenden und bekannten Schutzstatus in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union in die Bundesrepublik Deutschland begeben hat.

Nur in Ausnahmefällen ist das mit dem Rechtsbehelf gegen eine (ausländerrechtliche) Überstellungsentscheidung befasste Gericht, vorliegend das VG Karlsruhe, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Solche Schwachstellen lägen vor, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Jedenfalls begründet der bloße Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren.

Zwar bestehen Anhaltspunkte, dass anerkannte Schutzberechtigte nach ihrer Ankunft in Griechenland über einen längeren Zeitraum keinen effektiv gesicherten Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen haben und es für sie praktisch unmöglich ist, die Voraussetzungen für den Erhalt des sozialen Solidaritätseinkommens zu erfüllen, jedoch ist der Zugang zu Sozialleistungen, zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt maßgeblich durch das eigenverantwortliche Handeln des Einzelnen geprägt (VG Düsseldorf, Beschluss vom 8. April 2019 - 22 L 3736/18.A- juris Rdnrn. 37 ff. m.w.N.). Mithin muss der jeweilige Schutzberechtigte grundsätzlich befähigt sein, sich den schwierigen Bedingungen zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative selbst für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Ist davon auszugehen, dass er diese Schwierigkeiten bewältigen kann, dürfte es an einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aufgrund systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen in Griechenland fehlen (VG Düsseldorf, Beschluss vom 8. April 2019 - 22 L 3736/18.A- juris Rdnr. 43; VG Cottbus, Beschluss vom 16. Januar 2019 - 5 L 348/17.A - juris Rdnr. 22; VG Berlin, Beschluss vom 6. Dezember 2018 - 9 L 703.18 A - juris Rdnr. 16; VG Regensburg, Urteil vom 3. Januar 2019 - RN 11 K 18.31292 - juris Rdnr. 25). Der Antragsteller hat im vorliegenden Verfahren keine personenbezogenen Umstände vorgebracht, die es unmöglich erscheinen lassen, dass er die in Griechenland bestehenden Schwierigkeiten selbst zu überwinden vermag. Zudem gehört der volljährige und arbeitsfähige Antragsteller nicht zu der vom EuGH als besonders schutzbedürftig angesehenen Gruppe von Flüchtlingen, die aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen sich bei einer Rückführung in einer Situation extremer materieller Not befinden würden. Letztlich obliegt dem zuständigen VG Karlsruhe die Prüfung, ob im Fall des Antragstellers ein schwerwiegender Ausnahmefall vorliegt, der seiner Rückführung in die Hellenische Republik entgegensteht. Bis zu einer für den Antragsteller positiven Entscheidung bestehen für den Senat keine Bedenken, entsprechend der Vermutung, dass der Antragsteller durch die Hellenische Republik europarechtskonform behandelt werden würde, die für den von ihm verwirklichten Tatbestand vom Gesetzgeber vorgesehene Rechtsfolge des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG zur Anwendung zu bringen. [...]