VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 01.07.2019 - W 8 K 19.30264 - asyl.net: M27855
https://www.asyl.net/rsdb/M27855
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für homosexuellen Mann aus Marokko:

Zum einen sind homosexuelle Handlungen in Marokko sowohl bei Männern als auch bei Frauen strafbar, zum anderen sind sie Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt, vor denen sie durch staatliche Behörden nicht geschützt werden.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Marokko, homosexuell, Flüchtlingsschutz, Mann, Strafbarkeit, Diskriminierung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

14 Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG. [...]

35 Homosexuellen droht in Marokko, nach den vorliegenden Informationen aus den Erkenntnisquellen flüchtlingsrelevante Verfolgung.

36 LGBTI-Personen sind nach wie vor mit rechtlicher Diskriminierung in Marokko konfrontiert. Homosexuelle Handlungen sind sowohl für Männer als auch für Frauen strafbar. [...] Homosexualität wird von Behörden geahndet, wenn es zu Anzeigen kommt. [...] Homosexualität ist in der marokkanischen Gesellschaft ein Tabu-Thema. LGBTI-Personen werden oft sozial ausgegrenzt. Die sexuelle Selbstbestimmung wird durch das generelle Verbot außerehelicher einvernehmlicher sexueller Beziehungen sowie durch die generelle Kriminalisierung der Homosexualität stark eingeschränkt. Offen gelebte Homosexualität wird gesellschaftlich nicht toleriert. [...]

37 Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur wenige Fälle der Verurteilung wegen Homosexualität offiziell dokumentiert sind, ist festzuhalten, dass die Verurteilungen in Marokko nicht statistisch erfasst werden. Nach Aussage von Nichtregierungsorganisationen erfolgen tatsächlich deutlich mehr Verurteilungen (vgl. die Nachweise bei VG Berlin, U.v. 2.5.2019 - 34 K 74.19 A - juris), sodass von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen ist. Auch der Umstand, dass im Privaten gelebte Homosexualität in der Regel nur auf Anzeige von Familien und Nachbarn verfolgt wird, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn zum einen ist Homosexuellen nicht zuzumuten, ihre sexuelle Orientierung nur im Verborgenen zu leben und damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Zum anderen droht Homosexuellen aufgrund des gesellschaftlichen Klimas jederzeit die Anzeige aus ihrem privaten Umfeld heraus. Somit besteht auch kein interner Schutz in anderen Landesteilen. Maßgeblich ist, dass in der Praxis Freiheitsstrafen wegen homosexueller Handlungen verhängt werden und damit die konkrete Gefahr einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung besteht. Anzeigen erfolgen nicht allein aus dem Kreis der Familie, sondern aus Teilen der Öffentlichkeit. Infolgedessen geht die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung von einer flüchtlingsrelevanten Verfolgung Homosexueller in Marokko aus (vgl. zuletzt etwa, jeweils m.w.N., VG Berlin, U.v. 2.5.2019 - 34 K 74.19 A - juris; VG Aachen, U.v. 13.3.2019 - 8 K 4456/17.A - juris). [...]

42 Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich ausgeführt, dass von einem Asylbewerber nicht erwartet werden kann, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. [...]

44 Gesamtbetrachtet wäre dem Kläger bei einer Rückkehr nach Marokko aufgrund seiner Homosexualität der ständigen Gefahr einer staatlichen Verfolgung, konkret Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt, die wiederum an einem Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpfen. Dem Kläger kann weiter nicht zugemutet werden, auf das Ausleben ihrer Homosexualität zu verzichten bzw. entgegen ihrer sexuellen Identität eine Ehe mit einer Frau einzugehen. Ein Schutz durch den marokkanischen Staat ist nicht gegeben. Dies gilt landesweit, so dass es auch keine interne Schutzmöglichkeit gibt. Eine Rückkehr nach Marokko ist dem Kläger unter diesem Vorzeichen nicht zumutbar. [...]