LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 19.11.2019 - L 8 AY 26/19 B ER - Asylmagazin 12/2019, S. 430 ff. - asyl.net: M27838
https://www.asyl.net/rsdb/M27838
Leitsatz:

Keine Leistungskürzung bei in Griechenland "Anerkannten" wegen Unzumutbarkeit der Rückkehr:

1. § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG erfordert als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, dass dem Betroffenen die Rückkehr in das schutzgewährende Land aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen möglich und zumutbar ist.

2. Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG ist danach rechtswidrig, wenn aufgrund der systemischen Mängel der Aufnahmebedingungen in dem schutzgewährenden Land (hier Griechenland) insbesondere sog. vulnerablen Personen im Falle ihrer Rückkehr eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung (Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK) droht.

3. Bei der Prüfung einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG kann eine unterbliebene oder mangelhafte behördliche Sachverhaltsaufklärung, etwa zum Fortbestehen des durch einen Mitgliedsstaat der EU oder einen am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat gewährten internationalen Schutzes (§ 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG), insbesondere im gerichtlichen Eilverfahren nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten des Leistungsträgers nach dem AsylbLG gehen (Fortführung von LSG Celle-Bremen vom 08.04.2014 - L 8 AY 57/13 B ER - [asyl.net: M21809, Asylmagazin 5/2014, S. 177 f.] juris RdNr 21).

4. Eine nicht bestandskräftige asyl- oder aufenthaltsrechtliche Entscheidung entfaltet für eine Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG keine Tatbestandswirkung (vgl. dazu BSG, Urteil vom 27.2.2019 - B 7 AY 1/17 R - juris RdNr 26).

5. Zu dem Grundsatz des "ne ultra petita" [Antrags-Bindung des Gerichts] (§ 123 SGG) und dem Verbot der "reformatio in peius" [Verschlechterung] im Rechtsmittelverfahren.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, internationaler Schutz in EU-Staat, Sozialrecht, Griechenland, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Rückkehr, Zumutbarkeit, Unmöglichkeit, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Aufnahmebedingungen, Sachaufklärungspflicht, Beweislast, vorläufiger Rechtsschutz, Änderung der Rechtslage, Rücknahme, Leistungsausschluss, Anerkannte,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 4 S. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, SGG § 123, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylbLG § 2 Abs. 1, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 5, AsylbLG § 3 Abs. 4, AsylbLG § 9 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, SGB X § 45 Abs. 1, AsylbLG § 1 Abs. 4 S. 5,
Auszüge:

[...]

I.

1 Im Streit ist die vorläufige Gewährung höherer Leistungen nach dem AsylbLG für die Zeit ab Mai 2019, insbesondere die Rechtmäßigkeit einer Anspruchseinschränkung wegen der Zuerkennung internationalen Schutzes durch Griechenland (§ 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG). [...]

12 Die Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG erfolgt auf der Grundlage einer Interessenabwägung. [...]

13 Nach diesen Maßgaben ist die aufschiebende Wirkung der beim SG anhängigen Klage (- S 19 AY 24/19 -) anzuordnen, weil der angefochtene Bescheid nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage offensichtlich rechtswidrig ist. Als (Teil-) Aufhebung des Bescheides vom 1.3.2019 für die Zukunft (ab Mai 2019) erfüllt er nicht die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. §§ 44 ff. SGB X, wobei dahingestellt bleiben kann, ob die Vorgaben für eine Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X oder für eine Aufhebung aufgrund einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse nach § 48 SGB X erfüllt sein müssen.

14 Sollte der Bescheid vom 1.3.2019 bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig gewesen sein, wäre Rechtsgrundlage des Bescheides vom 1.4.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.5.2019 § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 45 Abs. 1 SGB X, nach dem ein rechtswidriger Verwaltungsakt unter bestimmten Voraussetzungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden "darf". Die Aufhebung erfordert in diesen Fällen die Ausübung von Ermessen (sog. Rücknahmeermessen, vgl. etwa BSG, Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 12/08 R - juris Rn. 10 m.w.N.). Eine solche Ermessensausübung ist weder dem Ausgangs- noch dem Widerspruchsbescheid zu entnehmen; der Antragsgegner hat vielmehr ausgeführt, dass § 1a Abs. 2 bis 4 AsylbLG keine Ermessensermächtigung enthalte (vgl. Begründung des Widerspruchsbescheides vom 22.5.2019, S. 3).

15 Die Voraussetzungen für eine Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen ebenfalls nicht vor. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine den Erlass eines Bescheides über eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG für die Zeit ab Mai 2019 rechtfertigende wesentliche Änderung liegt hier nicht vor. Die Antragstellerinnen hatten bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Bewilligungsbescheides vom 1.3.2019 über eine Aufenthaltsgestattung zur Durchführung der Asyl- bzw. Klageverfahren verfügt; die Gewährung internationalen Schutzes durch Griechenland war schon im August 2017 erfolgt. Die Ablehnung der Asylanträge der Antragstellerinnen zu 1 und 2 durch Bescheid des BAMF vom 29.3.2019 als unzulässig, ist zur Erfüllung der Tatbestandsmerkmale des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG irrelevant, ebenso dass der Antragsgegner womöglich erst nach Erlass des Bescheides vom 1.3.2019 Kenntnis von der Gewährung internationalen Schutzes durch Griechenland erlangt hat; maßgeblich ist insoweit nur der Zeitpunkt einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage.

16 Aber auch ungeachtet der allgemeinen Voraussetzungen für eine Aufhebungsentscheidung (§ 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG i.V.m. §§ 44 ff. SGB X) dürfte die Interessenabwägung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 1.4.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.5.2019 sprechen.

17 Die Frage der Rechtmäßigkeit einer Anspruchseinschränkung bemisst sich hier sowohl vor als auch nach Inkrafttreten des sog. Geordnete-Rückkehr-Gesetz am 21.8.2019 (BGBl. I 2019, 1294) nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG, nach dem - im Falle der Antragstellerinnen - Satz 1 der Vorschrift entsprechend gilt für Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG, denen bereits von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder von einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne von Satz 1 u.a. internationaler Schutz (Nr. 1) gewährt worden ist, wenn der internationale Schutz fortbesteht. Zusätzlich erfordert § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal, dass dem Betroffenen die Rückkehr in das schutzgewährende Land aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen möglich und zumutbar ist (in diese Richtung auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 8.7.2019 - L 18 AY 21/19 B ER - juris Rn. 34; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11.6.2019 - L 8 AY 5/19 B ER - juris Rn. 33; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.5.2019 - L 7 AY 1161/19 ER-B - juris Rn. 16 ff; a.A. Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 1a AsylbLG, 2. Überarbeitung, Rn. 97, 97.1). Hierfür sprechen insbesondere systematische und teleologische Erwägungen mit Blick auf die seit dem 21.8.2019 geltende Neuregelung des § 1 Abs. 4 Satz 5 AsylbLG (BGBl. I 2019, 1294), nach der im Einzelfall, insbesondere bei Reiseunfähigkeit, Überbrückungsleistungen auch über einen Zeitraum von zwei Wochen hinaus gewährt werden können. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zu einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK durch den rückführenden Staat, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass ein Flüchtling im Aufnahmestaat völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, juris Rn. 263 f. und 365 ff. sowie BVerfG, Beschluss vom 31.7.2018 - 2 BvR 714/18 - juris Rn. 18 ff. <Griechenland>), dürfte hier Überwiegendes für eine Rechtswidrigkeit der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG sprechen. Aufgrund der systemischen Mängel der Aufnahmebedingungen in Griechenland kann insbesondere sog. vulnerablen Personen, wie hier der alleinerziehenden Antragstellerin zu 1 und ihren acht- und einjährigen Kindern, den Antragstellerinnen zu 2 und 3, im Falle ihrer Rückkehr eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung (Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK) drohen (vgl. aus jüngster Zeit etwa VG Magdeburg, Urteil vom 10.10.2019 - 6 A 390/19 - juris Rn. 16 ff.; VG Saarland, Urteil vom 20.9.2019 - 3 K 1222/18 - und - 3 K 2100/18 - juris Rn. 22 und 23; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 16.09.2019 - 5a K 2772/19.A - juris Rn. 33 ff.; VG Würzburg, Urteil vom 19.7.2019 - W 2 K 18.30717 - juris Rn. 16 ff.; OVG Bremen, Beschluss vom 29.8.2019 - 1 LA 150/19 - juris). [...]

18 Zudem ist nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen nicht zweifelsfrei geklärt, ob der den Antragstellerinnen durch Griechenland gewährte internationale Schutz auch derzeit fortbesteht (vgl. § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG a.E.). Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast geht dies zu Lasten des Antragsgegners.

19 Welche rechtlichen Folgen es hat, dass der Antragsgegner die Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG entgegen der Vorgabe aus § 14 Abs. 1 AsylbLG nicht befristet hat, muss hier nicht abschließend beantwortet werden (ebenfalls offen gelassen im Senatsbeschluss vom 3.7.2019 - L 8 AY 9/19 - und vom 9.7.2019 - L 8 AY 7/19 B ER -). In Rechtsprechung und Literatur wird insoweit vertreten, dass eine unbefristete Leistungseinschränkung wegen eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz per se rechtswidrig ist (Bayer. LSG, Beschluss vom 19.3.2018 - L 18 AY 7/18 B ER - juris Rn. 24; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21.6.2018 - L 9 AY 1/18 B ER - juris Rn. 47; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.6.2018 - L 7 AY 1511/18 ER-B - juris Rn. 10; SG Magdeburg, Beschluss vom 30.9.2018 - S 25 AY 21/18 ER - juris Rn. 23; Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 14 Rn. 9 ff.; Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 14 Rn. 10).

20 Nur klarstellend weist der Senat darauf hin, dass sich der Leistungsanspruch der Antragstellerin zu 3 im Falle der Rechtswidrigkeit einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG ab 1.5.2019 entgegen der angefochtenen Entscheidung des SG nach § 2 Abs. 1 AsylbLG bemisst, weil sie sich als minderjähriges Kind im Haushalt ihrer Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG beziehenden Mutter, der Antragstellerin zu 1, für einen Bezug von Analog-Leistungen nicht 15 bzw. 18 Monate (seit 21.8.2019, BGBl. I 2019, 1294) ohne wesentliche Unterbrechung in Deutschland aufhalten muss; dies ergibt sich aus der Sonderregel des § 2 Abs. 3 AsylbLG (vgl. Oppermann in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 2 AsylbLG, 1. Überarbeitung, Rn. 167 m.w.N.). [...]