VG Düsseldorf

Merkliste
Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 23.07.2019 - 16 K 2453/18. A - asyl.net: M27802
https://www.asyl.net/rsdb/M27802
Leitsatz:

Verfolgungsgefahr für Yeziden aus dem Irak nicht "widerlegt":

Flüchtlingsanerkennung für einen Yeziden aus dem Irak, denn es besteht eine Wiederholungsgefahr der Massaker durch den IS. Dieser führt weiterhin einen Partisanenkampf, und die Ursachen des Konflikts, die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten im Irak, bestehen fort.

(Leitsätze der Redaktion, im Gegensatz zu sonst vorherrschender Rechtsprechung)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Gruppenverfolgung,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 1, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Schließlich wird durch die tatsächliche Entwicklung im Irak die Vermutungswirkung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU nicht widerlegt. Soweit Entscheidungen der Verwaltungsgerichte eine solche Widerlegung annehmen, stützen sie sich zum Teil darauf, dass gegenwärtig keine belastbaren Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung von Minderheiten durch den IS vorlägen (vgl. VG Münster, Urteil vom 26. April 2018 - 6a K 4203/16. A - juris). Auf die Frage, ob im Moment eine Gruppenverfolgungsgefahr positiv festgestellt werden kann, kommt es indessen aufgrund der genannten Vermutungswirkung nicht an. Die bereits eingetretene Verfolgung indiziert vielmehr eine entsprechende Gefahr für die Zukunft. Maßgeblich für die Beurteilung der Sachlage unter Berücksichtigung einer Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ist, ob stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen, die in einem inneren Zusammenhang mit der vor der Ausreise erlittenen oder unmittelbar drohenden Verfolgung stünde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. November 2011 - 10 B 32.11 - und Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 - juris, jeweils zur Richtlinie 2004/83/EG). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt, beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen. Zum anderen widerspräche es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (vgl. BVerwG a.a.O. Urteil vom 27. April 2010 m.W.N.).

Unter Berücksichtigung dieser die Beweiserleichterung rechtfertigenden Umstände kann nicht festgestellt werden, dass die indizierte Wiederholungsgefahr "widerlegt" ist.

Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. Februar 2018 berichtet, dass das "Kalifat" des islamischen Staats 2017 in Irak weitestgehend besiegt worden sei. Die vom IS kontrollierten Gebiete seien nach und nach durch irakische Sicherheitskräfte inklusive kurdischer Peshmerga befreit worden. Das Auswärtige Amt berichtet in der Reisewarnung (Stand 12. September 2018), obwohl der IS militärisch in der Fläche besiegt worden sei, gebe es im Land noch immer Gruppen von Kämpfern, von denen weiterhin Gefahr ausgehe. Es müsse landesweit weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen IS-Verbündeten und Sicherheitskräften gerechnet werden. Namentlich wird dies für die Provinzen Ninewa und Salah al Din angeführt. Die Zahl der terroristischen Anschläge vor allem im Nord- und Zentralirak sei seit langem sehr hoch. In ihrem Bericht zur Lage im Irak und zum deutschen Irak-Engagement vom 4. September 2018 (Drucksache 19/4070 des Deutschen Bundestages Bl. 3) kommt die Bundesregierung zu der Einschätzung, dass zwar die territoriale Herrschaft des IS habe überwunden werden können. Dies bedeute jedoch nicht das Ende der Bedrohung durch die Terrororganisation in Irak, Deutschland und Europa. Der IS sei noch immer eine Gefahr für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit. Die Terrororganisation existiere in Irak weiterhin im Untergrund und verübe Anschläge, ihre Propagandamaschinerie laufe weiter (vgl. a.a.O. Bl. 5 oben).

Ehemalige IS-Kämpfer führen in den Bergen einen klassischen Guerilla-Krieg. Wieder andere werden in der Umgebung Bagdads als Schläferzellen aktiv (Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 18. Mai 2018, S. 12 und 48).

Es wird von Explosionen, Tötungen und Überfallen berichtet, die von den Schläferzellen des IS in der Provinz Ninawa verübt werden (Vgl. Danish Immigration Service, Northern Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), 5. November 2018, abrufbar unter: www.refworld.org/docid/5bead8b44.html).

Angesichts des Umstandes, dass der IS Ausdruck der tiefgreifenden konfessionellen Spaltung des Irak zwischen Sunniten und Schiiten ist, liegt es auch völlig fern, von einem Verschwinden des terroristischen Potenzials des IS auszugehen.

Ungeachtet des Umstandes, dass der IS nicht mehr als quasi-staatliche Organisation auftritt, besteht nach wie vor ein innerer Zusammenhang zwischen den Gefahren, die vor dem Erstarken des IS zur quasi-staatlichen Organisation und während dieser Verfestigung bestanden. Die Täter der Verfolgung bleiben ebenso unverändert wie die Opfer und die flüchtlingsschutzerheblichen Anknüpfungspunkte.

Dass möglicherweise gegenwärtig das Potenzial für eine erneute Gruppenverfolgung fehlt, nimmt der Verfolgung in der Vergangenheit, die jedes einzelne Mitglied der Gruppe individuell betroffen hat, nicht die Indizwirkung für die Zukunft. Bei einer Gruppenverfolgung handelt es sich gegenüber der auf eine einzelne Person zielenden nicht um eine andere "Art" der Verfolgung, die etwa nur für die Gefahr einer weiteren Verfolgung Indizwirkung hat, die ebenfalls das Ausmaß einer Gruppenverfolgung annehmen müsste. Gruppenverfolgung und Individualverfolgung stellen nur unterschiedliche Erscheinungsformen der Verfolgung dar, die eine bestimmte Person betreffen kann. Unmittelbare Betroffenheit des Einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen sowie die Gruppengerichtetheit der Verfolgung stellen lediglich die Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung dar. (Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. November 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. - juris). Aus diesem Grunde ist es unzulässig, die Indizwirkung vormaliger Verfolgung schon dann in Abrede zu stellen, wenn lediglich eine Erscheinungsform gegenwärtig unwahrscheinlich erscheint. Vielmehr muss jede Art der Verfolgung durch einen bestimmten Verfolger ausgeschlossen werden können.

Soweit darauf verwiesen wird, angesichts der gegenwärtigen Präsenz irakischer Regierungstruppen einschließlich schiitischer Milizen bestünden keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass weitere Anschläge zielgerichtet gegen dort verbliebene oder dorthin zurückgekehrte Yeziden erfolgten, vielmehr sei davon auszugehen, dass die vom IS im gesamten Land verübten Selbstmordattentate wahllos und teilweise gezielt gegen Zivilpersonen gerichtet seien (vgl. VG Münster, Urt. vom 26. April 2018 - 6a K 4203/16.A - juris), lässt sich hierauf keine Widerlegung der genannten Vermutung stützen. Es bleibt vielmehr gänzlich spekulativ, davon auszugehen, dass der IS etwa in Zukunft davon absehen könnte, gezielt gegen Angehörige von ihm bislang verfolgter Gruppen vorzugehen, wir er das in der Vergangenheit getan hat. [...]