Flüchtlingsanerkennung für schwulen Mann aus Algerien:
1. Beleidigungen, verbale Diskriminierungen sowie die allgemein feindselige Einstellung von Nachbarn erreichen für sich genommen zwar nicht das Gewicht einer Verfolgungshandlung, wohl aber in ihrer Kumulierung.
2. Homosexuelle Personen, denen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, können keinen Schutz vom algerischen Staat erwarten.
(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)
[...]
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4 und 1 AsylG, § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). [...]
1. Nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559 f.) - Genfer Flüchtlingskonvention -, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Nr. 2a) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Nr. 2b). [...]
2. Das Gericht ist davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass der Kläger homosexuell ist. [...]
3. Der Kläger gehört als Homosexueller zu einer sozialen Gruppe, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). [...]
3.1 Homosexuelle Handlungen sind in Algerien nach Art. 338 des Strafgesetzbuchs strafbar. Daneben sieht Art. 333 eine qualifizierte Strafbarkeit für Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Bezügen zur Homosexualität vor. [...]
3.2 Das Gericht geht weiter davon aus, dass für den Kläger seine Homosexualität identitätsbildend ist. Um jedoch zu bestimmen, welche homosexuellen Verhaltensweisen für den Kläger so wichtig sind, dass er nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die ihn als zugehörig zu einer sozialen Gruppe - hier mit homosexueller Orientierung - erscheinen lassen, ist weiter zu prüfen, wie sich der Schutzsuchende bei seiner Rückkehr im Hinblick auf seine sexuelle Ausrichtung verhalten wird und wie wichtig diese Verhaltensweise für seine Identität ist. [...]
Nach den Angaben des Klägers anlässlich seiner Anhörung durch das Bundesamt und seiner informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht überzeugt, dass es für den Kläger wichtig ist, feste homosexuelle Beziehungen einzugehen und mit einem Partner in einer gemeinsamen Wohnung zusammen zu leben (siehe insbesondere Nrn. 1 bis 3, 7 und 25 der Anlage zur Niederschrift A 1 K 6549/16). Der Kläger machte auf das Gericht in der mündlichen Verhandlung zudem einen femininen Eindruck. Es ist deshalb davon auszugehen, dass sein homosexuelles Verhalten bzw. seine Homosexualität früher oder später öffentlich bemerkt oder ihm letztere jedenfalls zugeschrieben (§ 3b Abs. 2 AsylG) werden wird, da die sehr konservativ geprägte algerische Gesellschaft von einem Mann erwartet, dass dieser eine Frau heiratet und eine Familie gründet (vgl. Home Office, Country Policy and Information Note, Algeria: Sexual Orientation and gender identity, September 2017, S. 5 f. <2.5.3>).
4. Hiervon ausgehend droht dem Kläger in Algerien flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung. [...]
4.1 Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger von staatlicher Seite im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. [...]
4.2 Nach den unter 4. dargestellten Maßstäben droht dem Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) - im hiervorliegenden Einzelfall - allerdings von nichtstaatlichen Akteuren (§ 3c Abs. 1 Nr. 3 AsylG) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.
4.2.1 Der Kläger hat im Hinblick auf eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure in Algerien geschildert, er sei durch seinen damaligen Vermieter erpresst worden. Dieser habe ihn bei homosexuellen Handlungen mit seinem Partner heimlich gefilmt und gedroht, die Aufnahmen zu veröffentlichen (siehe insbesondere Nrn. 4 bis 18 der Anlage zur Niederschrift A 1 K 6549/16). Daneben habe es "Beleidigungen und Schläge von Freunden und der Familie" sowie "Sprüche" gegeben. Seine Nachbarn hätten ihn gehasst (siehe Blatt 55 und 56 der Bundesamtsakte mit dem Az. 672 2198 - 221).
4.2.2 Die geschilderten Beleidigungen, verbalen Diskriminierungen sowie die allgemein feindselige Einstellung von Nachbarn erreichen jeweils für sich genommen nicht das Gewicht einer Verfolgungshandlung. [...]
4.2.3 [...] Eine Besonderheit des vorliegenden Falls liegt jedoch darin, dass der Vermieter das aufgenommene Video von homosexuellen Handlungen des Klägers veröffentlichen kann oder zwischenzeitlich schon veröffentlicht hat und der Kläger dadurch so in den Aufmerksamkeitsfokus der Öffentlichkeit geraten könnte, dass er landesweit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch nichtstaatliche Verfolgungsakteure mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hätte. Vor dieser Bedrohung hat der Kläger insbesondere vom algerischen Staat auch keinen Schutz zu erwarten (§ 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG; vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 04.04.2018, Stand: Februar 2018, S. 13 f. <1.8 a.E>; Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Algerien, Stand: 12.03.2018, S. 22 f. <14.3 a.E.>; United States Dempartment of State, Algeria 2017 Human Rights Report, S. 30 f.). [...]