VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 31.05.2019 - 6 K 20852/16 We - asyl.net: M27742
https://www.asyl.net/rsdb/M27742
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für an Lupus erkrankte Kinder und ihren Vater aus dem Irak:

1. Die medizinische Versorgung im Irak ist sehr angespannt, so dass insbesondere eine schwerwiegende Autoimmunkrankheit wie Lupus im öffentlichen Gesundheitssystem weder mit der notwendigen Intensität noch unter den erforderlichen hygienischen Bedingungen behandelt werden kann.

2. Im Falle einer unzureichenden Behandlung von Lupus droht eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustands bzw. eine Beschleunigung des Krankheitsverlaufs sowie eine ggfs. tödlich verlaufende Infektion und damit eine konkrete Gesundheitsgefährdung im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG.

3. Bei einem Vater, der mit seiner Ehefrau und zwei schwerstkranken und stark pflegebedürftigen minderjährigen Kindern in den Irak zurückkehren wird, ist nicht davon auszugehen, dass er über die Pflege der Kinder hinaus einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit nachgehen könnte, so dass bei ihm ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK festzustellen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Nordirak, Kurdisches Autonomiegebiet, medizinische Versorgung, pflegebedürftig, medizinische Versorgung, Lupus, Autoimmunkrankheit, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Familie,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. [...] Vorliegend ist es überwiegend wahrscheinlich, dass sich die Erkrankung der Kläger zu 2 und 3 alsbald nach ihrer Rückkehr in den Irak erheblich verschlechtern würde. Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage ist die medizinische Versorgung im Irak sehr angespannt. Die Jahre des bewaffneten Konflikts, wirtschaftlicher Sanktionen, Finanzierungsengpässe, Korruption und Vernachlässigung haben das Gesundheitssystem ernsthaft deformiert. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmäntel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten zwar generell als qualifiziert. Viele haben aber aus Angst vor Entführungen oder Repressionen das Land verlassen. Die wenigen noch vorhandenen Gesundheitszentren sind zusätzlich durch Probleme bei der Versorgung mit Strom, Wasser und Medikamenten, bei der Müllentsorgung sowie der Hygiene belastet. Eine weitere erhebliche Beeinträchtigung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung stellt die große Zahl von zu behandelnden Kriegsverletzungen und Binnenflüchtlingen, insbesondere in der Herkunftsregion der Kläger, der kurdischen Autonomieregion, dar (vgl. UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Stand: Mai 2019, S. 53; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand: Dezember 2018, S. 25; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, Stand: Mai 2018. S. 167; Bundesasylamt, Analyse der Staatendokumentation: Die medizinische Versorgung im Irak, Stand: Dezember 2011). Auch in der kurdischen Autonomieregion nehmen die Behandlungsmöglichkeiten mit der Schwere der Krankheit, der Entfernung zu den Provinzhauptstädten und den schwindenden finanziellen Mitteln der Patienten für private medizinische Einrichtungen ab (Bundesasylamt, Analyse der Staatendokumentation: Die medizinische Versorgung im Irak, Stand: Dezember 2011, S. 9). [...]

Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Erkrankung der Kläger zu 2 und 3 im privaten Gesundheitssektor der kurdischen Autonomieregion oder des Irak behandelt werden wird. In diesem könnte die Therapie der Kläger zwar möglicherweise sichergestellt werden. Die dabei anfallenden Kosten dürften jedoch von den Klägern nicht zu bestreiten sein. Wie die zahlreichen fachärztlichen Stellungnahmen belegen, bedingt die Erkrankung der Kläger eine fachbereichsübergreifende, äußerst intensive und damit mehr als kostspielige Therapie. Selbst wenn der Kläger zu 1 und all seine Familienmitglieder nur für die Kläger zu 2 und 3 arbeiten würden, dürfte es ausgeschlossen sein, die fortlaufende Behandlung finanzieren zu können. Abgesehen davon haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung aber auch glaubhaft dargelegt, dass der Kläger zu 1 selbst - wenn überhaupt - nur als Tagelöhner arbeiten könnte und all die Familienmitglieder, die für eine finanzielle Unterstützung der Kläger in Betracht kämen, mittlerweile selbst aus dem Irak geflohen sind.

2. Hinsichtlich des Klägers zu 1 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. [...]

Hierbei ist maßgeblich zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 1 mit einer Ehefrau und zwei schwerstkranken und stark pflegebedürftigen minderjährigen Kindern in den Irak zurückkehren würde. Nach dem Vortrag des Klägers zu 1 beim BAMF und in der mündlichen Verhandlung war er bereits im letzten Jahr vor seiner Ausreise aus dem Irak nur noch mit deren Pflege beschäftigt. Da die Erkrankung seitdem fortgeschritten und eine adäquate medizinische Versorgung der Kinder im Falle einer Rückkehr - wie bereits dargestellt - nicht sichergestellt wäre, ist davon auszugehen, dass der Kläger auch nach einer Rückkehr in den Irak über die Pflege der Kinder hinaus keiner existenzsichernden Erwerbstätigkeit nachgehen könnte. Anders als vor seiner Ausreise stünde ihm aber nicht mehr die tatsächliche und finanzielle Unterstützung seiner Familie zur Verfügung. Nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung sind mittlerweile auch seine Eltern und Geschwister aus dem Irak ausgereist. Anhaltspunkte für eine anderweitige Unterstützung sind weder vorgetragen noch ersichtlich. [...]