Flüchtlingsanerkennung für eine Trans-Person aus dem Iran ohne vollständig erfolgte geschlechtsangleichende Operation:
1. Bei einer Frau-zu-Mann Trans-Person ohne vollständig erfolgte geschlechtsangleichende Operation, die sich zu Frauen hingezogen fühlt, ist davon auszugehen, dass sie die iranischen Behörden weiterhin als Frau und somit als homosexuell ansehen werden. In solchen Fällen droht Verfolgung wegen der zugeschriebenen Homosexualität sowie der tatsächlichen Transsexualität.
2. Sowohl homosexuelle als auch transsexuelle Menschen stellen im Iran eine bestimmte soziale Gruppe dar, die Verfolgung in Gestalt von physischer und psychischer Gewalt, gesetzlichen, administrativen, polizeilichen oder justiziellen diskriminierenden Maßnahmen sowie in Form von unverhältnismäßiger oder diskriminierender Strafverfolgung oder Bestrafung zu befürchten haben.
3. Eine transsexuelle Person kann nicht darauf verwiesen werden, sich einer vollständigen geschlechtsangleichenden Operation zu unterziehen, um auf diese Weise rechtliche Anerkennung als Mann im Iran zu erhalten und so Verfolgung wegen ihrer vermeintlichen Homosexualität zu vermeiden.
(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)
[...]
Die Klägerin hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung internationalen Schutzes in Gestalt der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 AsylG; soweit der Bescheid des Bundesamtes vom 3. April 2017 dem entgegensteht, ist er rechtswidrig und verletzt sie dadurch in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Der Klägerin droht zur Überzeugung der Einzelrichterin (§ 108 Abs. 1 VwGO) im Falle ihrer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
a) Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes - AufenthG -, oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. [...]
b) Gemessen an diesen Grundsätzen hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn sie befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb ihres Herkunftslandes, dessen Schutz sie nicht in Anspruch nehmen kann bzw. wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Ihre Furcht, wegen der ihr seitens des iranischen Staates zugeschriebenen Homosexualität oder der tatsächlich vorliegenden Transsexualität (vgl. zum Verfolgungsgrund unter (1)) im Iran einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt zu sein, ist begründet, da ihr diese aufgrund der in ihrem Herkunftsland gegebenen Umstände und in Anbetracht ihrer individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. hierzu unter (2)).
(1) In der Person der Klägerin liegt ein Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG vor.
Es bestehen für die Einzelrichterin nach Würdigung aller Umstände keinerlei Zweifel daran, dass Klägerin transsexuell ist. [...]
Hieraus ergibt sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine drohende Verfolgung wegen der Zugehörigkeit der Klägerin zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Dies resultiert einerseits daraus, dass die iranischen Behörden sie ohne eine vollständig erfolgte geschlechtsangleichende Operation weiterhin als Frau und damit auch als homosexuell ansehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass sich die Klägerin selbst als transsexueller Mann und damit nicht als - aufgrund ihrer Beziehung zu einer Frau - homosexuell identifiziert. Denn entscheidend ist insoweit, dass der betroffenen Person. das Verfolgungsmerkmal von seinem Verfolger zugeschrieben wird (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG). Andererseits gehört sie auch als Transsexuelle einer bestimmten sozialen Gruppe in diesem Sinne an.
Homosexuelle - wie auch transsexuelle - Menschen sind im Iran einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zugehörig. Sowohl die sexuelle Ausrichtung einer Person als auch die geschlechtliche Identität stellen Merkmale dar, die im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a AsylG so bedeutsam für die Identität ist, dass der Betreffende nicht gezwungen werden darf, auf sie zu verzichten. Es kann dabei nicht erwartet werden, dass die Sexualität im Herkunftsland geheim gehalten oder Zurückhaltung beim Ausleben der sexuellen Ausrichtung geübt wird, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden, wenn es zur selbstverstandenen Identität der betroffenen Person gehört, die eigene Sexualität zu leben (vgl. zu Artikel 10 der Richtlinie 2004/83/EG, der durch § 3b AsylG in nationales Recht umgesetzt wurde: EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - Rs. C-199/12 u.a. -, juris Rn. 46 f. und 76 ff.). Demnach sind schicksalshaft unveränderliche persönliche Merkmale wie Homosexualität oder Transsexualität asylerheblich (vgl. zu Transsexualität VG Braunschweig, Urteil vom 11. September 2018 - 1 A 671/17 -; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 12. Januar 2017 - A 6 K 2344/15 -, juris).
Diese Personengruppen besitzen im Iran ferner eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b AsylG). Dies gilt für Homosexuelle schon aufgrund der sie spezifisch betreffenden strafrechtlichen Bestimmungen im iranischen Recht (vgl. hierzu EuGH, a.a.O. Rn. 46 f.), aber auch für transsexuelle Menschen aufgrund ihrer deutlich abgegrenzten sexuellen Identität (vgl. zu Transsexuellen als soziale Gruppe im Iran ausführlich VG Würzburg, Urteil vom 17. Dezember 2014 - W 6 K 14.30391 -, juris; vgl. auch zur Russischen Föderation VG Potsdam, Urteil vom 27. April 2017 - 6 K 338/17.A -, juris Rn. 28 ff.). [...]
Sowohl für Homosexuelle als auch für Transsexuelle gilt, dass Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität im Iran nicht verboten ist. Da beides offiziell als Krankheit gilt, werden sowohl Homo- als auch Transsexuelle vom Militärdienst befreit und können keine Beamtenfunktionen ausüben. Es gibt Berichte, wonach Sicherheitskräfte im Iran solche Personen schikanieren, verhaften, misshandeln und vergewaltigen, die sie als Homosexuelle oder Transgender-Personen verdächtigen, und bei ihnen Razzien durchführen. Dabei besteht für Transsexuelle unter Umständen dadurch eine besondere Gefährdung, dass sie aufgrund ihrer Erscheinung tendenziell leichter zu identifizieren sind. Die Regierung überwacht Websites mit dem Ziel, Informationen über LGBTI-Personen zu erhalten zensiert Materialien mit LGBTI-Inhalten. Zwar liegen auch Berichte vor, wonach in Einzelfällen homosexuelle Beziehungen im entsprechenden soziokulturellen westlich-beeinflussten, liberalen Umfeld de facto "geduldet" bzw. "ignoriert" werden und die soziale Akzeptanz sich - insbesondere aufgrund der medialen Darstellung von LGBTI-Personen - leicht verbessert hat. Sexuelle Minderheiten sind aber im Allgemeinen noch immer regelmäßig mit Diskriminierungen, Belästigungen und Missbrauch, insbesondere auch durch nichtstaatliche Akteure wie Familienmitglieder, religiöse Persönlichkeiten, Schuldirektoren und Gemeindeälteste, konfrontiert, die sie aus Angst vor eigener strafrechtlicher Verfolgung oder weiterer Schikane den staatlichen Institutionen nicht melden. Lesbische Frauen und Frau-zu-Mann Transsexuelle erfahren dabei zusätzliche wirtschaftliche und soziale Restriktionen aufgrund der marginalisierten Rolle der Frau in der iranischen Gesellschaft. [...]
(2) Die Klägerin hat wegen der ihr zugeschriebenen Homosexualität und ihrer tatsächlichen Transsexualität bei Rückkehr in den Iran Verfolgung in Gestalt von physischer und psychischer Gewalt, von gesetzlichen, administrativen, polizeilichen oder justiziellen Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, sowie in Form von einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung, begründet zu befürchten (§ 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3, Abs. 3 AsylG). [...]
Die Klägerin kann auch nicht darauf verwiesen werden, dass sie sich einer vollständigen geschlechtsangleichenden Operation (einschließlich Penoidaufbau) unterziehen, auf diese Weise eine rechtliche Anerkennung als Mann im Iran erhalten und so eine Verfolgung wegen ihrer vermeintlichen Homosexualität vermeiden könnte. [...]
Das Gericht geht überdies davon aus, dass die Klägerin weder für den Ausreisezeitpunkt noch jetzt auf eine inländische Schutzalternative verwiesen werden kann. [...]