Kein Nachzug der Mutter gemeinsam mit Kleinkind zum subsidiär schutzberechtigten Vater, weil Ehe erst während der Flucht geschlossen wurde:
1. Der regelmäßige Ausschluss des Nachzugs von Eheleuten zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG, wenn die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde, gilt auch dann, wenn die Ehe während der Flucht geschlossen wurde. Von diesem Regelausschluss können zwar Ausnahmen gemacht werden, allerdings nur solche, die auf der allgemeinen Lage im Herkunftsland der subsidiär geschützten Person basieren.
2. Die Härtefallregelung zum Nachzug sonstiger Familienangehöriger nach § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG ist nicht auf den Nachzug von Eheleuten zu subsidiär Schutzberechtigten anwendbar.
3. Kein Anspruch wegen außergewöhnlicher Härte nach § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG der Mutter auf Nachzug zum Kleinkind, dem ein Visum für den Nachzug zum Vater erteilt wurde. Zwar kann ein Härtefall vorliegen, wenn das minderjährige Kind in Deutschland auf die Hilfe der nachziehenden Person zwingend angewiesen ist (unter Bezug auf OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.02.2017 - OVG 3 S 9.17 - asyl.net: M25150). Allerdings besteht zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kein Härtefall, da das Kind sich noch bei der Mutter befindet. Die Entscheidung, ob das Kind bei der Mutter oder dem Vater leben soll, stellt keine außergewöhnliche Härte dar.
(Leitsätze der Redaktion)
Anmerkung:
Soweit der Redaktion bekannt, war dies die erste Entscheidung zum Regelausschluss des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG, wobei die 38. Kammer des VG Berlin für Nachzugsverfahren zu subsidiär Schutzberechtigten erstinstanzlich allein zuständig ist. Die Entscheidung wurde inzwischen durch Sprungrevisionsurteil des BVerwG aufgehoben: Urteil vom 17.12.2020 - 1 C 30.19 - asyl.net: M29408.
[...]
19 1. Ein Anspruch der Klägerin zu 1 folgt nicht aus § 6 Abs. 3 in Verbindung mit § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG. [...] Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG kann dem Ehegatten eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Dabei ist gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen worden ist.
20 Danach ist die Erteilung eines Visums für die Klägerin zu 1 ausgeschlossen, weil sie und der Beigeladene zu 2 ihre Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen haben (hierzu unter a) und keine Ausnahme vom Regelausschlussgrund vorliegt (hierzu unter b).
21 a. Das negative Tatbestandsmerkmal des Regelausschlussgrundes, dass die Ehe "nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde", liegt nach Auffassung der Kammer vor, wenn die Ehe erst nach Verlassen des Herkunftslandes geschlossen worden ist. Ausgeschlossen vom Anwendungsbereich des § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sind damit grundsätzlich auch Ehen, die in einem Zeitpunkt geschlossen worden sind, in dem die Flucht noch andauerte. Vorliegend haben die Ehegatten ihre Ehe erst in Jordanien geschlossen, mithin zu einem Zeitpunkt, als sie ihr Herkunftsland Syrien wegen des Bürgerkriegs bereits verlassen hatten.
22 Für die Auffassung der Kammer zur Auslegung des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG spricht neben dem bereits insoweit eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ("vor der Flucht") auch deren Entstehungsgeschichte. Ehen, die "nach der Flucht aus dem Herkunftsland" geschlossen wurden, sollen nach der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung in der Regel nicht zum Familiennachzug berechtigen (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 3). Zudem stellt der Gesetzgeber ausdrücklich klar, dass Anderes für "nach dem Verlassen des Herkunftslandes geborene Kinder" gelte (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 24). Eine derartige Beschränkung des Ehegattennachzugs entspricht auch dem Sinn und Zweck des Gesetzes zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten - Familiennachzugsneuregelungsgesetz - (vgl. BGBl. I 2018, S. 1147). Es zielt darauf ab, vor dem Hintergrund der hohen Zahl von Asylsuchenden aus Herkunftsländern mit hoher Anerkennungsquote einen Ausgleich zwischen den rechtlichen und humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland einerseits und den Integrations- und Aufnahmesystemen von Staat und Gesellschaft andererseits zu schaffen (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 1, 15). Hierfür wurde zunächst der privilegierte Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten temporär für zwei Jahre ausgesetzt (vgl. § 104 Abs. 13 AufenthG a.F.), später die Aussetzung erneut verlängert und sodann bestimmt, dass ab dem 1. August 2018 der Familiennachzug zu dieser Gruppe aus humanitären Gründen für nicht mehr als 1.000 Personen pro Monat gewährt werden soll (vgl. BT-Drs. 19/2438, S. 2).
23 Die Auffassung der Kammer steht auch im Einklang mit Unionsrecht. Insbesondere ist eine gegenteilige Auslegung nicht wegen der Richtlinie 2003/86/EG - Familienzusammenführungsrichtlinie - geboten. Zwar gestattet Art. 9 Abs. 2 Familienzusammenführungsrichtlinie eine Beschränkung der Familienzusammenführung von Flüchtlingen auf Fälle, in denen die familiären Bindungen bereits vor der Einreise bestanden haben, sodass während der Flucht geschlossene Ehen dem Wortlaut nach erfasst werden können. Bereits Art. 9 Abs. 1 Familienzusammenführungsrichtlinie stellt jedoch klar, dass das Kapitel V (Art. 9-12) – nur – auf die Familienzusammenführung von Flüchtlingen Anwendung findet. Schließlich regelt Art. 3 Abs. 2 Buchstabe c der Familienzusammenführungsrichtlinie, dass diese keine Anwendung findet, wenn "dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde […]". Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 7. November 2018 (Rs. C-380/17, juris Rn. 33) ausdrücklich entschieden, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie auf subsidiär Schutzberechtigte keine Anwendung findet. Zudem sollte die unionsrechtliche Regelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten der Qualifikationsrichtlinie überlassen bleiben (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: November 2018, § 36a AufenthG Rn. 14).
24 Die von der Kammer vertretene Auffassung ist auch mit sonstigem höherrangigem Recht vereinbar. Insbesondere ist sie verhältnismäßig und verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (vgl. Art. 3 Abs. 1 GG). Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Zwecksetzung ist der Zeitpunkt der Eheschließung ein sachlicher Differenzierungsgrund. So kann wirksam ausgeschlossen werden, dass die Voraussetzungen für eine Nachzugsmöglichkeit erst nach Verlassen des Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen werden. Der Einwand der Kläger, die beigeladene Ausländerbehörde erkenne auch während der Flucht geschlossene Ehen als schutzwürdig im Sinne des § 36a AufenthG an, greift nicht durch. Zwar ist nach den Verfahrenshinweisen der Ausländerbehörde Berlin (VAB Nr. 36a.3.1) unter Flucht nicht nur die Ausreise aus dem Herkunftsstaat zu verstehen, sondern auch die Ein-, Durch- und Ausreise aus allen anderen Staaten vor Überqueren der Außengrenze eines Schengen-Staates. Demnach wäre der Ehegattennachzug zu einem syrischen Staatsangehörigen, der seine anerkannte Ehe in Jordanien geschlossen hat, möglich. Ein aus einer Selbstbindung der Verwaltung resultierender Anspruch kommt aber nur dann in Betracht, wenn die Behörde eine bestimmte Ermessenspraxis hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. August 2003 - BVerwG 3 C 49.02 - juris Rn. 14). Eine solche setzt ein der Behörde zustehendes Ermessen voraus. § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist jedoch, wie ausgeführt, negative Tatbestandsvoraussetzung eines Ehegattennachzugs zum subsidiär Schutzberechtigten; ein Ermessen der Behörde ist insoweit nicht eröffnet. Zudem entspricht es der Verwaltungspraxis im Prüfverfahren für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, dass die Ausländerbehörden allein für die Prüfung von Sachverhalten mit Inlandsbezug zuständig sind. Die Prüfung der auslandsbezogenen Sachverhalte – hierunter fällt auch der Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG – obliegt den Auslandsvertretungen (vgl. Rundschreibens des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat an die Länder vom 13. Juli 2018).
25 b. Eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG liegt nicht vor. Hiervon sind nur solche Situationen erfasst, die ihren Grund unmittelbar in der allgemeinen Lage im Herkunftsland des subsidiär Schutzberechtigten haben. Allein die Minderjährigkeit der Klägerin zu 1, die nach dem klägerischen Vortrag einer Eheschließung bereits in Syrien entgegengestanden habe, reicht für die Annahme einer atypischen Situation, die eine Abweichung vom Regelfall der geringeren Schutzwürdigkeit der nach Beginn der Flucht geschlossenen Ehe erforderte, nicht aus. Regelungen, die ein Mindestalter für die Eheschließung vorsehen, sind in zahlreichen Rechtskreisen üblich. Sie dienen zudem dem Schutz Minderjähriger und damit einem als besonders hoch einzustufenden Rechtsgut.
26 2. Die Klägerin zu 1 hat auch keinen Anspruch auf Familiennachzug zu ihrem Ehemann gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
27 Die Klägerin zu 1 ist als Ehefrau des Beigeladenen zu 2 keine "sonstige Familienangehörige" im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Die Vorschrift ist auf den Nachzug zum subsidiär schutzberechtigten Ehegatten nicht anwendbar. [...]
29 3. Die Klägerin zu 1 hat schließlich keinen Anspruch gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG im Wege eines Elternnachzugs zum minderjährigen Kind, hier dem Kläger zu 2, der im Besitz eines Aufenthaltstitels im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG in Gestalt eines auf Grundlage von § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erteilten Visums ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt fehlt es an der erforderlichen außergewöhnlichen Härte. Zwar kann eine solche auch vorliegen, wenn der im Bundesgebiet lebende minderjährige Ausländer, zu dem der Nachzug stattfinden soll, auf die Hilfe des Nachziehenden zwingend angewiesen ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Februar 2017 - OVG 3 S 9.17 - juris Rn. 5; Marx, in: GK-AufenthG, Stand: Mai 2018, § 36 Rn. 54). Dies ist hier jedoch – zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 - juris Rn. 10) – nicht der Fall. Denn der Kläger zu 2 hält sich nach wie vor gemeinsam mit der Klägerin zu 1 in Jordanien auf und hat von dem ihm erteilten Visum zum Familiennachzug zu seinem Vater (noch) keinen Gebrauch gemacht. Dass der Kläger zu 2 bzw. seine Eltern vor der Entscheidung stehen, ob der Kläger zu 2 weiterhin mit der Klägerin zu 1 oder in Zukunft mit dem Beigeladenen zu 2 leben soll (vgl. für den Elternnachzug OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Dezember 2011 - OVG 3 B 22.10 - juris Rn. 22), stellt keine außergewöhnliche Härte dar. Es obliegt den Eltern des Klägers zu 2, eine dem Kindeswohl entsprechende – mit der Visumserteilung durch die Beklagte erst ermöglichte – Entscheidung zu treffen. [...]