VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 02.09.2019 - 1 K 7171/17.GI.A - asyl.net: M27715
https://www.asyl.net/rsdb/M27715
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Afghanistan wegen Trennung nach Zwangsehe:

Einer Frau, die in Afghanistan zwangsverheiratet wurde, mit ihrem Ehemann nach Deutschland geflohen ist und sich hier von ihm getrennt hat, ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Ihr droht in Afghanistan die Verfolgung durch ihre Familie aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, die hier an das Geschlecht anknüpft. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Zwangsehe, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Trennung
Normen: AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Die Klägerin ist zur Überzeugung der Einzelrichterin vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist, denn sie wurde dort zwangsverheiratet.

Eine (in Afghanistan erfolgte) Zwangsheirat stellt eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar. Danach gelten auch Handlungen als Verfolgung, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Infolge einer Zwangsheirat wird für eine Frau die individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt. Die Frau wird als reines Wirtschaftsobjekt und als "verkaufbare" Sache be- und gehandelt. Eine Zwangsheirat ist eine schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten, die in Deutschland nach § 237 StGB bestraft wird und gegen internationale Konventionen verstößt. Die Freiheit der Eheschließung ist in Art. 12 EMRK, Art. 9 GR-Charta und Art. 16 Abs. 2 UN-Menschenrechtserklärung garantiert. Zudem droht einer von einer Zwangsheirat betroffenen Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sexuelle Gewalt und im Falle der Verweigerung der Zwangsheirat oder der Flucht aus dieser physische Gewalt (vgl. VG Würzburg, Urt. v. 14.03.2019 - W 9 K 17.31742 -, juris). Viele Gewaltfälle gelangen in Afghanistan nicht vor Gericht, sondern werden der traditionellen Streitbeilegung zugeführt, im Rahmen derer die verletzten Frauen oft darauf verwiesen werden, durch Rückkehr zu ihrem Ehemann den Familienfrieden wieder herzustellen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan, Stand Mai 2018, S. 15).

Der Verfolgungsgrund ist im vorliegenden Fall die Zugehörigkeit der Klägerin zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Dies ist hier wegen der erfolgten Zwangsverheiratung der Klägerin der Fall.

Da sich eine Frau in Afghanistan nicht folgenlos aus einer Zwangsverheiratung lösen kann und es sich - trotz Verbesserung der Lage der Frauen - als immer noch sehr schwer darstellt, dass eine Frau ihre Rechte auch durchsetzen kann (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan, Stand Mai 2018, S. 14), gehört die Klägerin zu der traditionell gebrandmarkten sozialen Gruppe der Frauen, die sich einer Zwangsheirat durch die Familie durch Trennung entzogen haben und ihrer Familie damit Schande eingebracht haben. Dies gilt im Fall der Klägerin umso mehr, als dass diese aus einer Militärfamilie stammt und ihrem Bruder als hochrangigem Militär nun eine große Schande widerfahren ist, da sich seine Schwester - die Klägerin - der von ihm organisierten und bestimmten Ehe entzogen hat, indem sie ihren Ehemann verlassen hat. Unabhängig davon, ob die Klägerin ihrem Bruder bei einer etwaigen Rückkehr nach Afghanistan wahrheitsgemäß erzählen würde, dass die Trennung von ihr "verschuldet" gewesen ist, ist jedenfalls damit zu rechnen, dass der verlassene Ehemann der Klägerin bei deren Bruder in Afghanistan anruft und sich über die Klägerin und die von ihr vollzogene Trennung beschwert.

Die geschlechtsspezifische Verfolgung der Klägerin geht von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG aus. Zu diesen nichtstaatlichen Akteuren zählen auch Einzelpersonen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.07.2006, BVerwGE 126, 243). Die Klägerin wurde von ihrem Bruder - einem hochrangigen Militär - gegen ihren Willen zur Eingehung der Ehe genötigt und würde für eine Trennung von diesem bei einer Rückkehr nach Afghanistan die entsprechende "Strafe" bekommen. [...]

Nach ihrem Vortrag, den die Einzelrichterin für glaubhaft hält, droht der Klägerin bei einer etwaigen Rückkehr nach Afghanistan zwar nicht die Gefahr einer Zwangsheirat, denn die Klägerin wurde bereits in Afghanistan zwangsverheiratet. Es droht ihr auch nicht die Rückkehr in eine Zwangsehe, da ihr Ehemann ebenfalls hier in Deutschland lebt. Es droht ihr aber aufgrund der hier in Deutschland erfolgten Trennung eine geschlechtsspezifische Verfolgung gerade wegen der ("unerlaubten") Trennung von ihrem Ehemann und somit wegen der versuchten Flucht aus einer Zwangsehe. Als unmittelbare Folge einer Zwangsheirat ist die von der Klägerin zu erwartende "Strafe" durch ihren Bruder ebenfalls eine geschlechtsspezifische Verfolgung. [...]