OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 01.07.2019 - 9 LA 87/19 - asyl.net: M27708
https://www.asyl.net/rsdb/M27708
Leitsatz:

"Restriktive Auslegung eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen:

Nicht jeder bei der Ausländerbehörde gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen ist zugleich ein Asylantrag i. S. v. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, Familienasyl, Familienflüchtlingsschutz, Asylantrag, Asylantragsstellung, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Auslegung,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 3, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. j, AsylG § 26 Abs. 3 S. 2, AsylG § 13,
Auszüge:

[...]

11 Mit "Antrag" i.S.v. § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist nicht der bei der Ausländerbehörde gestellte Antrag auf Erteilung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen gemeint. Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG werden die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn sie vor der Anerkennung des Asylberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben. Dies gilt gemäß § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG entsprechend für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten. Damit setzt § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG bei einer Einreise der in § 26 Abs. 3 AsylG genannten Familienangehörigen nach der Anerkennung des Asylberechtigten in seiner zweiten Variante ausweislich seines eindeutigen Wortlauts voraus, dass sie einen "Asylantrag" gestellt haben. Ein solcher Asylantrag liegt nach § 13 Abs. 1 AsylG vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG oder ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG droht. Ein Antrag auf Erteilung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige nach dem sechsten Abschnitt des zweiten Kapitels des Aufenthaltsgesetzes stellt demgemäß keinen Asylantrag i. S. d. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG dar.

12 Aus den Darlegungen der Kläger und der von ihnen angeführten Rechtsprechung ergeben sich auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bei jedem bei der Ausländerbehörde gestellten Antrag auf Erteilung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach §§ 27 ff. AufenthG zugleich von einem Asylantrag i.S.v. § 13 Abs. 1 AsylG ausgegangen werden kann. Ob ein Ausländer bei der Vorstellung bei der Ausländerbehörde (auch) einen Asylantrag stellen wollte, bedarf der Ermittlung seines konkreten Begehrens durch Auslegung seiner Erklärung, was einer allgemeinen Klärung in einem Berufungsverfahren nicht zugänglich, sondern eine Frage des Einzelfalls ist.

13 Die von den Klägern genannten Gründe – die Berücksichtigung der in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337/9) getroffene Regelung über Leistungsansprüche der Familienangehörigen von international Schutzberechtigten, des sich aus Art. 6 GG ergebenden Schutzes der Familie, der verfahrensrechtlichen Rechte aus Art. 6 EMRK sowie Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG, einer fehlenden anwaltlichen Vertretung der Antragsteller, der systematischen Stellung des § 26 AsylG sowie, dass eine Antragstellung bei der Ausländerbehörde, wie auch § 14 AsylG zeige, naheliege – mögen allesamt Umstände darstellen, die im Rahmen der Auslegung des bei der Ausländerbehörde gestellten Antrages des jeweiligen Antragstellers zu berücksichtigen sind. Sie führen aber nicht zu der Annahme, dass jeder dort gestellte, auf Familieneinheit gerichtete Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zugleich als Asylantrag i.S.v. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG zu werten ist (so auch Marx, AsylG, 9. Auflage 2017, § 26 Rn. 43).

14 Dies macht auch folgende Kontrollüberlegung deutlich: Wenn jeder bei der Ausländerbehörde gestellte und auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtete Antrag zugleich als Antrag i.S.v. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG zu werten wäre, müsste von einem Asylantrag i.S.v. § 13 AsylG auch dann ausgegangen werden, wenn der Antragsteller bei seiner Antragstellung bei der Ausländerbehörde ausdrücklich betonte, keinen Asylantrag stellen zu wollen. Hinzu kommt, dass das Asylverfahren Verpflichtungen des Ausländers, insbesondere hinsichtlich der Wahl seines Aufenthaltsortes, mit sich bringt. So sind Asylbewerber gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylG zur Wohnsitznahme in einer Aufnahmeeinrichtung verpflichtet, müssen sich nach § 50 Abs. 6 AsylG unverzüglich zu der in einer Zuweisungsverfügung genannten Stelle begeben und haben gemäß § 56 Abs. 1 AsylG eine räumlich grundsätzlich auf den Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde beschränkte Aufenthaltsgestattung, wobei ein Verstoß gegen diese räumliche Beschränkung obendrein nach § 86 AsylG als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 2.500 EUR geahndet werden kann. Auch das hiesige Verfahren zeigt, dass es durchaus Gründe für einen Verzicht auf die Stellung eines Asylantrages gibt. So lässt sich der Niederschrift über die behördliche Anhörung der Klägerin zu 1) am 7. November 2017 (S. 2 und 5) entnehmen, dass auch deren Ehemann bewusst keinen Asylantrag stellen wollte, da dieser dann weiter die gemeinsame, sich noch im Irak befindliche Tochter besuchen könne.

15 Das Verwaltungsgerichts Augsburg geht in seinem von den Klägern angeführten Urteil vom 15. Februar 1996 (– Au 8 K 95.30729 – juris Rn. 11 - 12) ebenfalls davon aus, dass nicht jeder bei der Ausländerbehörde gestellte und auf Familieneinheit gerichtete Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zugleich einen Asylantrag beinhalte, sondern für die Annahme eines Asylgesuchs vielmehr eine kurze Begründung mit einem Hinweis auf die Gefahr politischer Verfolgung erforderlich sei. Das Gericht nimmt sodann eine Auslegung des dem dortigen Verfahren zugrunde liegenden, schriftlich gestellten Antrags vor, wobei es sich unter anderem die einzelfallbezogene Frage stellt, ob der anwaltlichen Bezugnahme auf die Bestimmungen des Ausländerrechts für die Ableitung des Bleiberechts entnommen werden kann, dass ausdrücklich kein Familienasyl gewollt ist. [...]