Verlust des EU-Daueraufenthaltsrechts für Freizügigkeitsberechtigte auch bei Begehung mittlerer und schwerer Straftaten:
Die Feststellung des Verlusts eines EU-Daueraufenthaltsrechts gemäß § 4a FreizügG/EU erfordert gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Diese können sich im Einzelfall bereits aus der Begehung mittlerer und schwerer Straftaten ergeben.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf OVG Niedersachsen, Urteil vom 11.07.2018 - 13 LB 50/17 - asyl.net: M26672, EuGH, Urteil vom 17.04.2018 - C-316/16 B. gg. Deutschland; C-424/16 Großbritannien gg. Vomero - Asylmagazin 7-8/2018, s. 273 ff. - asyl.net: M26169)
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5 Der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU kann gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Soll die Verlustfeststellung gegenüber einem Unionsbürger oder Familienangehörigen erfolgen, der - wie der Antragsteller - ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben hat, müssen die Gründe gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU schwerwiegend sein. Soll die Verlustfeststellung gegenüber einem Unionsbürger oder Familienangehörigen erfolgen, der seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatte oder der minderjährig ist, erfordert dies gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, die nur dann vorliegen können, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht. Diese - zur Umsetzung des Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, - Freizügigkeitsrichtlinie - (ABl. L 158 v. 30.4.2004, S. 77), zuletzt geändert durch Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 v. 27.5.2011, S. 1), gewählte - Normsystematik zeigt, dass der Schutz vor dem Verlust des Freizügigkeitsrechts anknüpfend an den Grad der Integration des betroffenen Unionsbürgers oder Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat stufenweise zunimmt (vgl. EuGH, Urt. v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/16 -, juris Rn. 48).
6 Nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU genügt zur Begründung einer Verlustfeststellung die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein zudem noch nicht. Es dürfen vielmehr nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss. Eine strafrechtliche Verurteilung kann eine Verlustfeststellung nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. EuGH, Urt. v. 17.4.2018, a.a.O., Rn. 92 f.; Urt. v. 29.4.2004 - C-482/01 und C-493/01 -, DVBl. 2004, 876, Rn. 67 m.w.N.). Die Gefährdung kann sich im Einzelfall auch allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens ergeben (vgl. EuGH, Urt. v. 27.10.1977 - Rs. 30/77 - (Bouchereau), NJW 1978, 479, Rn. 30; BVerwG, Beschl. v. 7.12.1999 - BVerwG 1 C 13.99 -, BVerwGE 110, 140, 146; Urt. v. 27.10.1978 - BVerwG I C 91.76 -, BVerwGE 57, 61, 65 f.). Es besteht aber keine dahingehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.6.1998 - BVerwG 1 C 27.95 -, InfAuslR 1999, 59). Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Begründung der Verlustfeststellung ist in jedem Fall unzulässig (vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.1975 - Rs. 67/74 - (Bonsignore), Slg. 1975, 297). Ob die Begehung einer Straftat nach deren Art und Schwere (vgl. auch EuGH, Urt. v. 29.4.2004, a.a.O., Rn. 99) ein persönliches Verhalten erkennen lässt, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, kann ebenfalls nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden. Erforderlich und ausschlaggebend ist die unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Unionsbürgers und die insoweit anzustellende aktuelle Gefährdungsprognose (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004 - BVerwG 1 C 30.02 -, juris Rn. 25; Bayerischer VGH, Beschl. v. 22.10.2012 - 10 ZB 12.1655 -, juris Rn. 4 f.). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung besagt aber nicht, dass eine "gegenwärtige Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im europarechtlichen Sinne beeinträchtigen wird (vgl. Senatsurt. v. 11.7.2018 - 13 LB 50/17 -, juris Rn. 43). Ob eine Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann nur aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden. Zu prüfen ist u.a., ob eine etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdenden Straftaten mehr begehen wird (vgl. wiederum: BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, a.a.O., Rn. 26, m.w.N.).
7 a. Hieran gemessen hat das Verwaltungsgericht zunächst zutreffend schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU angenommen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren und die Fernhaltung des Antragstellers vom Bundesgebiet erfordern (Beschl. v. 31.7.2019, Umdruck S. 6 f.): [...]
10 Der Senat macht sich diese Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung zu Eigen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die widerstreitende Auffassung der Beschwerde, "schwerwiegende Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU könnten nur bei der Begehung von Straftaten nach dem Katalog des Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV oder ähnlich schwerwiegenden Straftaten gegeben sein, teilt der Senat nicht. Die im Katalog des Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV genannten Straftaten bieten vielmehr einen Anhaltspunkt für das Vorliegen "zwingender Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU (vgl. Senatsurt. v. 11.7.2018, a.a.O. Rn. 50 ff.). Ausgehend von dem abgestuften System der Absätze 1, 4 und 5 des § 6 FreizügG/EU ist der Begriff der "zwingenden Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU aber erheblich enger als der der "schwerwiegenden Gründe" im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU (so ausdrücklich EuGH, Urt. v. 23.11.2010 - C-145/09 - (Tsakouridis), juris Rn. 40). Dies legt es nahe, dass sich schwerwiegende Gründe im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU - abhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalls - auch schon aus der Begehung mittlerer und schwerer Straftaten ergeben können (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, FreizügG/EU, § 6 Rn. 68 (Stand: März 2017); vgl. auch Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, FreizügG/EU § 6 Rn. 51, die schwerwiegende Gründe schon bei der Begehung von Verbrechen oder schweren Vergehen annehmen). Diese Deliktsschwere erreicht die vom Antragsteller begangene schwere Vergewaltigung nach § 177 Abs. 3 Nr. 2 StGB a.F., der eine Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren vorsah. Diese Gewichtung wird durch die aufgezeigten konkreten Umstände der Tatbegehung gestützt und auch nicht dadurch infrage gestellt, dass das Strafgericht im Rahmen der Strafzumessung einen minderschweren Fall angenommen hat (vgl. AG Leer, Urt. v. 9.11.2016, Umdruck S. 12 f.). [...]