VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 11.12.2018 - 10 A 2933/17 - asyl.net: M27634
https://www.asyl.net/rsdb/M27634
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung junger Frauen mit angeborenen und äußerlich sichtbaren körperlichen Behinderungen in Afghanistan:

"1. Eine für eine Gruppenverfolgung von Mädchen bzw. jungen Frauen mit angeborenen und äußerlich sichtbaren körperlichen Behinderungen hinreichende Verfolgungsdichte ist den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln in Bezug auf Afghanistan nicht zu entnehmen.

2. Es ist derzeit für eine Zivilperson in der Provinz Kabul nicht beachtlich wahrscheinlich, infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts verletzt oder getötet zu werden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Behinderung, Schwerbehinderung, Afghanistan, Frauen, Mädchen, Gruppenverfolgung, Diskriminierung, soziale Gruppe, Flüchtlingsanerkennung, subsidiärer Schutz,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

18 1. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

24 a) Die Klägerinnen können sich nicht auf die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU berufen.Sie sind im Iran geboren und aufgewachsen und haben sich nach eigenen Angaben noch nie in Afghanistan aufgehalten, sodass sie dort noch nicht verfolgt oder unmittelbar von Verfolgung bedroht gewesen sein können. [...]

25 b) Den Klägerinnen droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. [...]

27 aa) Nach diesen Maßstäben droht den Klägerinnen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Gruppe der jungen Frauen bzw. Mädchen), die an ihr Geschlecht anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG a.E.). [...]

32 bb) Nach den vorbenannten Maßstäben ist auf der Grundlage der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen auch eine Gruppenverfolgung der enger gefassten besonderen sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) AsylG) der Mädchen bzw. jungen Frauen mit angeborenen und äußerlich sichtbaren körperlichen Behinderungen nicht festzustellen. [...]

36 (b) Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass behinderte Menschen, vor allem Mädchen und junge Frauen mit angeborenen körperlichen Behinderungen, in Afghanistan diskriminiert und ausgegrenzt werden (vgl. zum Folgenden instruktiv die Berichte von ACCORD: Anfragebeantwortung zu Afghanistan, Informationen zur Lage von Behinderten [a-10528], 30.3.2018; Anfragebeantwortung zu Afghanistan, Gesellschaftlicher Umgang mit Menschen mit Behinderung [a-10317], 13.9.2017; Anfragebeantwortung zu Afghanistan, […] 3) Versorgungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung [a-9926], 21.11.2016). [...]

38 Die afghanische Gesellschaft unterscheidet zwei Arten von körperlichen Behinderungen (vgl. ACCORD: Anfragebeantwortung zu Afghanistan, Situation von geistig beeinträchtigten [minderjährigen] Personen [a-9886], 2.11.2016). Unter "Malul" ("erworben") werden Behinderungen gefasst, die eine eindeutig identifizierbare Ursache haben, wie eine Kriegsverletzung oder einen Arbeitsunfall. "Mayub" ("angeboren") verweist hingegen auf religiöse bzw. übernatürliche, ungeklärte Ursachen. "Mayub" bedeutet im Sprachgebrauch auch "ungesund" oder "Halbmensch". [...]

39 Behinderte Menschen werden gesellschaftlich diskriminiert. [...]

40 Menschen mit Behinderungen sind infolge ihrer Einschränkungen sowie der gesellschaftlichen Diskriminierungen von wirtschaftlicher, sozialer und politischer Teilhabe häufig ausgeschlossen. [...]

41 Der afghanische Staat ist nach internationalem Recht, der Verfassung sowie dem "Law on the Rights and Benefits of Disabled Persons" verpflichtet, behinderten Menschen die aktive Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, indem er finanzielle, materielle und andere Unterstützung leistet und Integrationsmaßnahmen durchführt (vgl. USDOS, S. 46 f.; AIHCR, S. 4 f.). Die Regierung erarbeitet zwar Aktionspläne, Programme und Maßnahmen, diese werden jedoch kaum in die Tat umgesetzt. [...]

42 (c) Die dargestellten Diskriminierungen und Beeinträchtigungen in den einzelnen Bereichen wiegen am Maßstab der flüchtlingsrechtlich relevanten Menschenrechtsverletzung so wenig schwer, dass sie auch in ihrer Kumulierung einer solchen qualitativ nicht gleichkommen. Es handelt sich um Nachteile, die weder einzeln noch in der Gesamtschau eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsintensität erreichen. Zudem fehlt es an der erforderlichen Verfolgungsdichte. [...]

48 2. Die Klägerinnen haben ferner keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. [...]