LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 21.08.2019 - L 7 AS 285/19 B ER - Asylmagazin 10-11/2019, S. 383 ff. - asyl.net: M27597
https://www.asyl.net/rsdb/M27597
Leitsatz:

Leistungsausschluss für arbeitssuchende EU-Staatsangehörige zulässig:

1. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Bst. c SGB II für arbeitssuchende EU-Staatsangehörige ist europarechtskonform. Es muss keine Einzelfallprüfung erfolgen, ob der Leistungsausschluss unverhältnismäßig ist. Die Schranken- bzw. Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 FreizügigkeitsRL 2004/38/EG umfasst auch Ungleichbehandlungen hinsichtlich des Bezugs von Sozialleistungen.

2. Der Leistungsausschluss ist auch verfassungskonform. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum wird durch die Gewährleistung von „Überbrückungsleistungen“ nach § 23 SGB XII, die erforderlich sind, um den Betroffenen die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen ihres EU-Herkunftslandes zu ermöglichen, gewahrt.

3. Das nicht-deutsche minderjährige Kind mit Unionsbürgerschaft und Aufenthaltsrecht in Deutschland vermittelt der Mutter kein Aufenthaltsrecht nach § 11 FreizügG/EU iVm. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG analog.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 15.09.2015 - C-67/14 (Alimanovic gegen Deutschland, Asylmagazin 10/2015, S. 355 ff. - asyl.net: M23179); das LSG Nordrhein-Westfalen hat dem EuGH unter anderem die Frage, ob der Leistungsausschluss für arbeitssuchende Personen mit EU-Staatsangehörigkeit mit dem Gleichbehandlungsgebot aus Art. 18 AEUV i.V.m. Art. 10 und Art. 7 ArbeitnehmerfreizügigkeitsVO 492/2011 vereinbar ist sowie ob die Schrankenregelung des Art. 24 Abs 2 FreizügigkeitsRL auf das Gleichbehandlungsgebot Anwendung findet, zur Vorabentscheidung vorgelegt, vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.2.2019 – L 19 AS 1104/18)

Schlagwörter: Leistungsausschluss, Drittstaatsangehörige Familienmitglieder, Freizügigkeitsrecht, Aufenthaltsrecht, EuGH, Europarecht, Verfassungsrecht, Recht auf menschenwürdiges Existenzminimum, Existenzminimum, Unionsbürger, Sozialleistungen, Gleichbehandlungsgebot, Überbrückungsleistungen,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Bst. c, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, SGB XII § 23, FrezügG/EU § 11, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Soweit für die Antragstellerin ausschließlich ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zur Arbeitsuche in Betracht kommt, ist sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II von den Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Soweit die Antragstellerin überhaupt nicht über ein Aufenthaltsrecht verfügt, ist sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) SGB II ebenfalls von den Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Beides stellt keinen Verstoß gegen europäisches Recht dar (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 11. Dezember 2014, L 7 AS 528/14 B ER, Juris, Rdnr. 40 ff.; so jetzt auch ausdrücklich EuGH, Urteil vom 15. September 2015, Rechtssache C-67/14 - Alimanovic -, Rdnr. 48 ff.). Soweit für die Antragstellerin, die nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügt, ausschließlich ein mittelbar aus dem Aufenthaltsrecht ihres Kindes nach Art. 10 der VO (EU) 492/2011 abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der VO (EU) 492/2011 oder eine solches Recht neben einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche in Betracht kommt, ist sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II sind von der Leistungsberechtigung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Ausländerinnen und Ausländer ausgeschlossen, die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b) aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen.

Diese Regelung ist nicht wegen Verstoßes gegen europarechtliche Vorschriften für die Antragstellerin nicht anwendbar. Sie verstößt auch nicht gegen nationales Verfassungsrecht.

Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II ist mit europäischem Recht vereinbar (zum Meinungsstand pro und contra siehe Vorlagebeschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. Februar 2019, Juris, Rdnr. 39, 46 f., 48 ff.).

Die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II verstößt, soweit sich die Antragstellerin neben einem aus Art. 10 der VO (EU) 492/2011 abgeleiteten Aufenthaltsrecht auch auf ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche berufen kann, nicht gegen Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG. Art. 24 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG bestimmt, dass vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats genießt. Zwar wird die Antragstellerin gegenüber den deutschen Staatsangehörigen anders behandelt weil die Antragstellerin im Gegensatz zu den deutschen Staatsangehörigen durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen wird. Diese unterschiedliche Behandlung ist jedoch nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG erlaubt (vgl. auch EuGH, Urteil vom 15. September 2015, Rechtssache C-67/14 - Alimanovic -, Juris, Rdnr. 63). Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG bestimmt, dass abweichend von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet ist, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen und Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Damit ist der Aufnahmestaat nicht verpflichtet Personen, die nicht als Arbeitnehmer oder Selbständige tätig sind oder deren Status als Arbeitnehmer oder Selbständige noch fortwirkt sowie deren Familienangehörigen, in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts und für die Zeit, in der sie arbeitssuchend sind, Sozialhilfe zu gewähren. Damit ist die Bundesrepublik Deutschland nicht verpflichtet, der Antragstellerin Sozialhilfe zu gewähren. Die hier begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II stellen auch Sozialhilfeleistungen im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG dar (EuGH, Urteil vom 11. November 2014, Rechtssache C-333/13 - Dano -, Juris, Rdnr. 63; BSG, Beschluss vom 12. Dezember 2012, B 4 AS 9/13 R, Juris, Rdnr. 41; LSG Hessen, Urteil vom 27. November 2013, L 6 AS 378/12, Juris, Rdnr. 59). Die Bundesrepublik Deutschland ist bei einem solchen Leistungsausschluss auch nicht verpflichtet, in jedem Einzelfall eine Prüfung vorzunehmen, ob der Leistungsausschluss im Hinblick auf die persönliche Situation des Unionsbürgers in Abwägung mit der Zielsetzung, eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen zu verhindern, unverhältnismäßig ist (so aber LSG Hessen, 6. Senat, Beschluss vom 30. September 2013, L 6 AS 433/13 B ER, Juris, Rdnr. 36; dies auch für möglich haltend BSG, Beschluss vom 12. Dezember 2012, B 4 AS 9/13 R, Juris, Rdnr. 42, ablehnende dagegen EuGH, Urteil vom 15. September 2015, Rechtssache C-67/14 - Alimanovic -, Juris, Rdnr. 59 ff.). [...]

Der Senat ist der Auffassung, dass die Schranken- bzw. Ausnahmeregelung des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG auch Ungleichbehandlungen hinsichtlich des Bezugs von Sozialleistungen bei einem aus Art. 10 der VO (EU) 492/2011 abgeleiteten Aufenthaltsrecht rechtfertigt (so auch Landessozialgerichts Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 14. September 2017, L 21 AS 1459/17 B ER, Juris, Rdnr. 50; a.A. Vorlagebeschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. Februar 2019, Juris Rdnr. 48 ff.). [...]

Die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt auch nicht gegen Art. 18 AEUV in Verbindung mit Art. 10 und Art. 7 Abs. 2 VO (EU) 492/2011, der jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet. [...]

Es besteht auch kein Aufenthaltsrecht nach § 11 Freizügigkeitsgesetz/EU in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz (analog) unter Berücksichtigung von Art. 18 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Eine unmittelbare Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz scheitert daran, dass die Kinder der Antragstellerin nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Aber auch eine insoweit analoge Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz kommt aus Sicht des Senats nicht in Betracht (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 28. Juni 2017, L 7 AS 140/17 B ER, nicht veröffentlicht, aber mit Verweis auf Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Mai 2017, L 31 AS 1000/17 B ER, Juris). [...]

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) SGB II hat der Senat nicht (so auch LSG Thüringen, Beschluss vom 1. November 2017, L 4 AS 1225/17 B ER, Juris, Rdnr. 25 ff. m.w.N.).

Das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Es steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu (BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, BVerfGE 132, 134). [...]

Der Gesetzgeber hat mit dem Ausschluss von laufenden Leistungen für Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder die ihr Aufenthaltsrecht allein aus Art. 10 der VO (EU) 492/2011 ableiten, die Nachrangigkeit des deutschen Sozialleistungssystems gegenüber dem des Herkunftslandes normiert. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Leistungsansprüche sind für diese Personengruppe nach der seit dem 29. Dezember 2016 geltenden Rechtslage nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern lediglich auf solche Hilfen beschränkt, die erforderlich sind, um die Betroffenen in die Lage zu versetzen, existenzsichernde Leistungen ihres Heimatlandes in Anspruch zu nehmen. So räumt § 23 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) nunmehr einen Anspruch auf eingeschränkte Hilfen bis zur Ausreise – Überbrückungsleistungen – ein (Abs. 3 Satz 3, 5) und verpflichtet die Behörde darüber hinaus zur Übernahme der Kosten der Rückreise (Abs. 3a). Durch eine Härtefallregelung (Abs. 3 Satz 6) wird zudem jetzt sichergestellt, dass im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte Leistungen erbracht werden, die nach Art, Umfang und/oder Dauer noch über die "normalen" Überbrückungsleistungen hinausgehen. Der Gesetzgeber bewegt sich mit dieser Regelung innerhalb des Spielraums, welcher ihm bei der Ausgestaltung des Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG eingeräumt ist. (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER, Juris, Rdnr. 42).

Anders als dem Personenkreis, für den das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) einen Anspruch auf laufende existenzsichernde Leistungen vermittelt, ist es Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Regel ohne weiteres möglich, kurzfristig in ihren Heimatstaat zurück zu reisen, um dort anderweitige Hilfemöglichkeiten zu aktivieren. Daher kann die Gewährleistungsverpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG für Anspruchsberechtigte nach dem AsylbLG, die gerade nicht in jedem Fall zeitnah in ihre Heimat zurückkehren können, um dort ihren Lebensunterhalt zu sichern, auch umfangreichere und länger andauernde Leistungen zur Existenzsicherung erfordern. Bei Unionsbürgern kann sich die Gewährleistungsverpflichtung demgegenüber darin erschöpfen, sie bei den Bemühungen der Selbsthilfe durch eingeschränkte Leistungen (z. B. Überbrückungsleistungen, Übernahme der Kosten der Rückreise) zu unterstützen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER, Juris, Rdnr. 43 m.w.N.). [...]