VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 21.08.2019 - 5 K 1884/17 - asyl.net: M27585
https://www.asyl.net/rsdb/M27585
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG für Gesamtfamilie aus Afghanistan wegen Erkrankungen der Eltern und eines Kindes:

1. Beim Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung, einer depressiven Episode sowie einer Rückenmarkserkrankung ist aufgrund der Mängel im Gesundheitssystem in Afghanistan sowie der Notwendigkeit, über finanzielle Mittel zu verfügen, nicht davon auszugehen, dass ausreichende Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Insbesondere die Behandlung psychischer Erkrankungen ist in Afghanistan nur unzureichend möglich. 

2. Die Behandlung gynäkologischer Erkrankungen wie Harninkontinenz, Dyspareunie und Dysmenorrhoe, die in ihrer Gesamtheit zu einem erheblichen Leidensdruck führen, kann derzeit in Afghanistan nicht gewährleistet werden. 

3. Auch bei einer starken Entwicklungsverzögerung, einer deutlichen Dystrophie sowie Kleinwuchs, Hör- und Sehminderung ist nicht davon auszugehen, dass diese in Afghanistan ausreichend ärztlich behandelt werden können.

4. Aufgrund der bestehenden Erkrankung der Eltern und der Minderjährigkeit der gesunden Kinder ist auch für diese ein Abschiebungsverbot festzustellen, da nicht angenommen werden kann, dass sie alleine in der Lage wären, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sichern. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, medizinische Versorgung, Krankheit, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Rückenmarkserkrankung, Harninkontinenz, Dyspareunie, Dysmenorrhoe, Dystrophie, Kleinwuchs, Hörminderung, Sehminderung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

II. Die sonach allein verbliebene Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ist zulässig und jedenfalls hinsichtlich eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründet. [...]

Den Klägern drohen aufgrund ihres Gesundheitszustandes (Kläger zu 1., 2. und 5.) bzw. ihrer persönlichen Lebenssituation (Kläger zu 3. und 4.) im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei liegt nach Satz 2 der Vorschrift in ihrer seit dem 17.03.2016 geltenden Fassung eine konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, und ist es nach ihrem Satz 3 nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaates gewährleistet ist, § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG (vgl. zur Neufassung der Vorschrift auch Urteil der Kammer vom 30.11.2016 - 5 K 2041/16 -, m.w.N.). [...]

Den Klägern droht hier auf Grund ihrer besonderen individuellen Gesundheits- bzw. Lebenssituation eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 2 AufenthG, ohne dass die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG eingreift.

Hinsichtlich der Kläger zu 1., 2. und 5. ergibt sich dies bereits daraus, dass erforderlich aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. Satz 2 AufenthG ist, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht. [...]

Diese Voraussetzungen liegen hier zunächst hinsichtlich des Klägers zu 1. vor. Denn auf Grund der bei ihm bestehenden psychischen und auch somatischen Erkrankungen und den daraus resultierenden Folgen muss davon ausgegangen werden, dass für ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht.

Wie sich zunächst aus dem Ärztlichen Attest des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. ... vom ... 2018 (Bl. 89 d.A.) ergibt, das auf dessen vorangegangenen Fachärztlichen Befundberichten vom  ... 2018 (nebst Labordiagnostik) (Bl. 82 ff. d.A.) und ... 2018 (Bl. 87 d.A.) aufbaut, ist bei dem seit dem ... 2017 in nervenärztlicher Behandlung des Facharztes stehenden Kläger zu 1. von einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer schweren depressiven Episode und einer Hydromyelie (Höhlenbildung in der grauen Substanz des Rückenmarks (auch: Hydrosyringomyelie oder Syringomyelie; siehe www.wikipedia.de, Stichwort "Syringomyelie")) auszugehen; des Weiteren besteht danach Verdacht auf eine entzündliche Erkrankung des Zentralnervensytems, differenzialdiagnostisch auf eine vaskuläre Erkrankung. [...]

Dieser gravierende und auf einer längerfristigen ambulanten Behandlung und Untersuchung beruhende fachärztliche Befund wird durch mehrere fachklinische Behandlungsberichte bzw. Arzt- und Entlassungsbriefe über stationäre Aufenthalte bestätigt. [...]

Mit diesen von ihm vorgelegten fachärztlichen Attesten und fachklinischen Berichten und auch der Psychologischen Stellungnahme hat der Kläger zu 1. substantiiert nachgewiesen, dass er sowohl an einer psychischen Erkrankung als auch an einer somatischen Erkrankung leidet. [...]

Hinsichtlich der Klägerin zu 2., der Ehefrau des Klägers zu 1., ist auf der Grundlage des von ihr vorgelegten Arztbriefs der Frauenklinik des ... vom ... 2017 davon auszugehen, dass sie an Harninkontinenz sowie an weiteren gynäkologischen Erkrankungen leidet [...]. Wie der genannte und vom Chefarzt der Klinik unterzeichnete Arztbrief weiter ausführt, sind außerdem Dyspareunie und Dysmenorrhoe schon seit langem bekannt, besteht ein "erheblicher Leidensdruck" und werden mehrere Therapien empfohlen. Mithin hat die Klägerin zu 2. substantiiert dargelegt, dass sie an mehreren behandlungsbedürftigen gynäkologischen Erkrankungen leidet. Insbesondere ist nicht ersichtlich und aufgrund des beschriebenen schwierigen Krankheitsbildes auch nicht zu erwarten, dass diese Erkrankungen der Klägerin zu 2. inzwischen ausgeheilt sein könnten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass diese der längerfristigen fachärztlichen Behandlung, Verlaufskontrolle und Medikation bedürfen; wäre diese nicht mehr gewährleistet, könnte dies eine zumindest gesundheitsschädliche Situation zur Folge haben.

Ähnlich liegt es bei dem inzwischen ca. 6 1/2 Jahre alten Kläger zu 5. Wie sich aus der ärztlichen Bescheinigung des Kinderarztes Dr. ... vom ... 2018 ergibt, liegen bei dem Kläger zu 5. eine starke Entwicklungsverzögerung, eine deutliche Dystrophie sowie Kleinwuchs, Hör- und Sehminderung vor [...]. Ausweislich des vorläufigen Arztbriefs der Kinderklinik des ... über eine stationäre Behandlung vom ... 10. bis ... 10.2018 wurde bei ihm neben der "bekannten Entwicklungsverzögerung bei Kleinwuchs" auch eine "symptomatische fokale Epilepsie bei V.a. peripartaler Epilepsie" diagnostiziert sowie eine Besiedelung durch multiresistente Erreger (MRSA) im Nasen/Rachenabstrich nachgewiesen (Bl. 93 ff. d.A.). [...]

Ein Ambulanzbrief der Augenklinik des ... vom ... 2018 befürwortet sodann auf der Basis der Diagnose [...] für den Kläger zu 5 eine allgemeine Frühfördertherapie bzw. einen Förderkindergarten (Bl. 102 d.A.).

Somit wurde für den Kläger zu 5. substantiiert dargelegt, dass er an mehreren behandlungsbedürftigen somatischen Erkrankungen leidet und diese der längerfristigen fachärztlichen Behandlung, Verlaufskontrolle und Medikation bedürfen. Es ist davon auszugehen, dass es eine zumindest gesundheitsschädliche Situation zur Folge haben könnte, wenn diese nicht mehr gewährleistet wäre.

Auf Grund der bei den Klägern zu 1., 2. und 5. bestehenden Erkrankungen und den daraus resultierenden Folgen muss daher davon ausgegangen werden, dass für diese bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht. Insoweit ist maßgeblich, dass eine ausreichende Behandlung dieser Erkrankungen nach Überzeugung des Gerichts in Afghanistan im Hinblick auf die dort bestehenden Mängel im Gesundheitswesen und das Erfordernis, über finanzielle Mittel zu verfügen, nicht gewährleistet ist. [...]

Insbesondere ist die Behandlung von psychischen Erkrankungen in Afghanistan nur unzureichend möglich. [...]

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss daher davon ausgegangen werden, dass eine erforderliche psychotherapeutische und auch medikamentöse Behandlung zumindest der nachgewiesenen schweren psychischen Erkrankung des Klägers zu 1. ebenso wie eine Behandlung der gravierenden somatischen Erkrankungen der Klägerin zu 2. und des Klägers zu 5. in Afghanistan nicht in ausreichendem Umfang möglich ist und sich ihr Zustand ohne regelmäßige medizinische Behandlung weiter verschlechtern würde, so dass für sie im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland sämtlich eine akute Gefahr für Leib und Leben bestünde. Denn auf Grund der diagnostizierten Erkrankungen einerseits und fehlender Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan andererseits sind hinsichtlich der Kläger zu 1., 2. und 5. gerade bei einer Rückkehr schwere psychische bzw. somatische Beeinträchtigungen anzunehmen.

Zudem muss auf Grund der in Afghanistan herrschenden wirtschaftlichen Situation davon ausgegangen werden, dass es für den Kläger zu 1., der hier überdies an einer Rückenmarkerkrankung leidet, im Hinblick auf seine Erkrankung nicht möglich sein wird, bei einer Rückkehr seinen Lebensunterhalt sicherzustellen, so dass auf Grund von Mangelernährung alsbald mit einer Gefahr für Leib und Leben zu rechnen ist. Nichts anderes gilt für seine gynäkologisch erkrankte Ehefrau und erst recht für den an mehrfachen Erkrankungen leidenden minderjährigen Kläger zu 5. [...]

Zwar ist nach der Rechtsprechung der Kammer ( vgl. Urteile vom 12.06.2018 - 5 K 2579/16 -, vom 08.02.2017 - 5 K 830/16 -, vom 30.11.2016 - 5 K 2041/15 - und vom 04.02.2016 - 5 K 65/15) auf Grund der vorliegenden Auskünfte auch davon auszugehen, dass für alleinstehende Rückkehrer nach Afghanistan grundsätzlich ausreichende Möglichkeiten bestehen, das Überleben zu sichern. [...]

Dies gilt jedoch nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer nicht für Fälle, in denen der Betroffene selbst auf medizinische Betreuung angewiesen und deshalb nicht in der Lage ist, sein Überleben durch Arbeit zu sichern (vgl. Urteile vom 06.02.2019 - 5 K 163/17 -, vom 10.10.2018 - 5 K 128/17 -,03.08.2018 - 5 K 1385/16 -, vom 12.06.2018 - 5 K 2579/16 -, vom 08.02.2017 - 5 K 830/16 -, vom 30.11.2016 - 5 K 2041/15 - und vom 04.02.2016 - 5 K 65/15 -). Es ist davon auszugehen, dass das aufgrund ihrer Erkrankungen auch auf die Kläger zu 1., 2. und 5. für den Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan zutrifft (vgl. nur Urteil der Kammer vom 04.02.2016 - 5 K 65/15).

Nichts anderes kann dann aber im Ergebnis auch für den 15 Jahre alten Kläger zu 3. und die 11-jährige Klägerin zu 4. angenommen werden. Es liegt angesichts der dargestellten Verhältnisse in Afghanistan offenkundig mehr als fern, dass es ihnen in ihrer individuellen Lebenssituation und vor dem konkreten Hintergrund der gravierenden Erkrankungen namentlich beider Elternteile, auf die sie aber als Minderjährige nach wie vor angewiesen sind, gelingen könnte, ihren Lebensunterhalt und ihr Überleben dort eigenständig sicherzustellen. Im Hinblick auf die überaus hohe Vulnerabilität des klägerischen Familienverbandes erscheint hier auch ein etwaiges familiäres Netzwerk im Heimatland, selbst wenn ein solches noch vorhanden und überdies grundsätzlich belastbar sein sollte, ausnahmsweise nicht hinreichend, zumindest nicht längerfristig. [...]

Daher haben sämtliche Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans. Auf die Frage der Begründetheit ihrer Anträge auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG kommt es sonach entsprechend § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht mehr an ( vgl. dazu auch Urteile der Kammer vom 03.08.2018 - 5 K 1385/16 -, 12.06.2018 - 5 K 2579/16 - und 04.02.2016 - 5 K 65/15). [...]