VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 23.07.2019 - 2 A 19/17 - asyl.net: M27571
https://www.asyl.net/rsdb/M27571
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine kurdische Frau aus dem Irak wegen Verfolgung aufgrund ihres "westlichen Lebensstils": 

1. Irakische Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität "westlich" geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer "westlichen" Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, bilden eine soziale Gruppe. 

2. Für kurdische Rückkehrende ist davon auszugehen, dass sie sich nicht dauerhaft in den Zentralirak begeben können, sondern ihnen als inländische Fluchtalternative lediglich die kurdischen Autonomiegebiete zur Verfügung stehen. Auch dort sind "westlich" orientierte Frauen jedoch nicht vor Verfolgungsmaßnahmen von Verwandten sicher. 

3. Auch Frauen bzw. Mädchen, die gegen ihren Willen verheiratet werden sollen, stellen eine bestimmte soziale Gruppe dar. Der irakische Staat ist nicht in der Lage, davor Schutz zu gewähren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe, Zwangsheirat, Verwestlichung, verwestlichte Frauen, westlicher Lebensstil, Flüchtlingsanerkennung, westlicher Lebensstil, Frauen, soziale Gruppe, Mädchen, Kurden, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3a, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Die Klägerinnen haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom ... August 2016 ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht. Denn insoweit erweist er sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten. [...]

Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerinnen mit ihrem Vortrag, unmittelbar vor ihrer Ausreise von Mitgliedern einer terroristischen Vereinigung mehrfach bedroht worden zu sein, eine Vorverfolgung glaubhaft dargelegt haben oder ob die Beklagte verpflichtet ist, den Klägern unter dem Gesichtspunkt des Familienflüchtlingsschutzes die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Denn es liegen in ihrem Fall jedenfalls beachtliche eigene Nachfluchtgründe vor, die eine Rückkehr der Klägerinnen in den Irak als unzumutbar erscheinen lassen. Bei den Klägerinnen liegen außergewöhnliche Umstände vor, die in der Gesamtschau der Zustände und Verhältnisse im Irak und ihres individuellen Einzelfalls die Feststellung erfordern, dass die Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Irak einer unmittelbaren individuellen geschlechtsspezifischen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wären. [...]

Das Gericht ist aufgrund des Vorbringens der Klägerin zu 1) im gerichtlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Klägerin zu 1) sowohl in ihrer Heimatregion als auch in den als Fluchtalternative in Betracht kommenden kurdischen Autonomiegebieten im Falle ihrer Rückkehr Verfolgungshandlungen in Gestalt von an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfenden Handlungen im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG durch nichtstaatliche Akteure i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG, namentlich insbesondere ihre im Irak verbliebenen Verwandten, ausgesetzt wäre, die sie im Besonderen als irakische Frau mit westlicher Prägung und damit als Teil einer bestimmten sozialen Gruppe (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) betreffen.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsyIG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (lit. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (lit. b). Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 4 AsyIG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft.

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder ihnen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann (VG Hannover, Urteile vom 10.04.2019 - 6 A 2689/17 - und vom 10.12.2018 - 6 A 6837/16 ; VG Karlsruhe, Urteil vom 21.02.2019 - A 10 K 4198/17 -; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A -; VG Göttingen, Urteil vom 05.07.2011 - 2 A 215/09 -; grundlegend zu diesen Grundsätzen in Bezug auf westlich geprägte Frauen afghanischer Herkunft: Nds. OVG, Urteil vom 21.09.2015 - 9 LB 20/14 - jeweils juris). Derart in ihrer Identität westlich geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet (VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A - juris). [...]

Weiter steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Klägerin zu 1) im Falle ihrer Rückkehr in den Irak dort mit Blick auf die Tatsache, dass sie eine an westlichen Werten orientierte Frau ist, die diese Werte auch erkennbar nach außen trägt, eine geschlechtsspezifische Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG durch einen nichtstaatlichen Akteur mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, ohne dass der irakische Staat und die kurdischen Autonomiegebiete sie davor schützen könnte.

Die Feststellung, ob eine in ihrer Identität westlich geprägte irakische Frau im Fall ihrer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls, wobei die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen ist. Dieses ist dem Umstand geschuldet, dass sich die konkrete Situation irakischer Frauen je nach regionalem und sozialen Hintergrund stark unterscheiden kann, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, ob und inwieweit die Betreffende voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand: Dezember 2018, S. 13 f.; ferner: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017 - 8a K 1971/16.A - juris). Eine grundsätzliche Verfolgungsgefahr wird vornehmlich für alleinstehende oder alleinerziehende Frauen, die nicht auf den Schutz eines Familienverbandes zurückgreifen können, angenommen (VG Hannover, Urteile vom 26.02.2018 - 6 A 6292/16 - und vom 26.02.2018 - 6 A 5751/16 - jeweils juris). [...]

Nach den Erkenntnissen der Kammer sind Frauen mit erkennbar westlicher Identitätsprägung im gesamten Irak - auch in den kurdischen Autonomiegebieten - einem besonders großen Risiko ausgesetzt, Opfer von sexuellen Schikanen und Gewalttaten zu werden. Aufgrund des individuellen Vorbringens der Klägerin zu 1) zu ihrem Einzelschicksal verdichtet sich dieses Risiko in ihrem Einzelfall auch zu einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit, da sie glaubhaft dargelegt hat, dass ihre im Irak verbliebenen Verwandtschaft ihren Lebensstil missbilligt und ihr deshalb mit Repressalien droht und nicht ersichtlich ist, dass ihr Ehemann oder ein Umzug in die kurdischen Autonomiegebiete der Klägerin zu 1) ausreichend Schutz bieten könnte. [...]

Im Fall der Klägerin zu 1) rechtfertigt gerade ihr individuelles Vorbringen zu ihrem Einzelschicksal die Annahme einer begründeten Furcht vor Schikanen und Gewalttaten im oben genannten Sinne. Das Gericht ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens davon überzeugt, dass die männlichen irakischen Verwandten der Klägerin zu 1) ihr gegenüber nicht nur schutzunwillig sind, sondern gewalttätige Übergriffe bis hin zum "Ehrenmord" gerade von ihnen, den männlichen Verwandten, drohen, wenn die Klägerin zu 1) in den Irak zurückkehrt und dort einen westlich geprägten Lebensstil pflegt. [...]

Auch der Klägerin zu 2) ist in Anknüpfung an eine ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende geschlechtsspezifische Verfolgung die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Nach den vorstehend genannten Maßstäben gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs bilden auch Frauen/Mädchen, die gegen ihren Willen verheiratet werden sollen, eine bestimmte soziale Gruppe. Die infolge der Schutzlosigkeit potenziell drohende Gefahr der Zwangsverheiratung teilen alle Frauen in vergleichbarer Lage. Sie prägt ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und unterscheidet sie auch deutlich von anderen Gruppen der Gesellschaft (vgl. Marx, AsylG, 9. Aufl. 2016, § 3b Rn. 50 m.w.N.; VG Berlin, Urteil vom 22.05.2018 - 25 K 22.17 A - juris). [...]

Es steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Klägerin zu 2) - nachdem sie nunmehr dreizehn Jahre alt ist - im Falle ihrer Rückkehr in den Irak dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Zwangsverheiratung durch einen nichtstaatlichen Akteur, nämlich ihre im Irak verbliebene Verwandtschaft droht, ohne dass der irakische Staat sie davor schützen könnte. [...]