VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2019 - A 9 S 1566/18 - asyl.net: M27568
https://www.asyl.net/rsdb/M27568
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot hinsichtlich Somalias für jungen alleinstehenden Mann:

"1. Bei dem nationalen Abschiebungsschutz handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (§ 60 Abs. 5, Abs. 7 S 1 einschließlich § 60 Abs. 7 S 1 und 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) in verfassungskonformer Anwendung). Deshalb kommt eine Abschichtung einzelner nationaler Abschiebungsverbote im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ungeachtet des materiellen Nachrangs des Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) nicht in Betracht (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319) (Rn. 23).

2. Um ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art 3 EMRK (juris: MRK) zu begründen, müssen die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) erreichen. Dies kann der Fall sein, wenn er seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. Hierbei bedarf es einer Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, NVwZ 2019, 61 Rn. 9 und 11) (Rn.25) (Rn. 29).

3. Nach gegenwärtiger Erkenntnislage besteht in Somalia keine derart prekäre humanitäre Situation und insbesondere keine derart unzureichende allgemeine Versorgungslage, dass eine Rückführung dorthin, insbesondere nach Mogadischu, in Anwendung von § 60 Abs. 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) i.V.m. Art. 3 EMRK (juris: MRK) generell ausgeschlossen wäre (Rn. 44).

4. Liegen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots wegen schlechter humanitärer Bedingun­gen nach § 60 Abs. 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) i.V.m. Art 3 EMRK (juris: MRK) nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 S 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) in verfassungskonformer Anwendung allein relevante extreme Gefahrenlage aus (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, NVwZ 2019, 61 Rn. 13 und vom 21.08.2018 - 1 B 40.18 -, juris Rn. 11; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 09.11.2017 - A 11 S 789/17 -, juris Rn. 282) (Rn. 52)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Somalia, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Mogadischu, Südsomalia, Zentralsomalia,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

33 b) Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat unter Zugrundelegung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zur humanitären Lage in Somalia, insbesondere in Mogadischu als Zielort der Abschiebung, der im Falle des Klägers auch der letzte Wohnort und der Wohnort seiner Familie ist, keine allgemeinen Lebensbedingungen (mehr), die derart schwerwiegende Gefahren für den Kläger hervorrufen würden, dass dessen Abschiebung nach Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK unzulässig wäre (unter aa). Diese Bewertung deckt sich mit der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Lage in Somalia sowie mit der Einschätzung anderer Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe hierzu (unter bb). Nichts Anderes ergibt sich schließlich auch unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers im Falle seiner Rückkehr (unter cc).

34 aa) Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein sehr fragiler Staat. Es gibt es keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind schwach. Die Autorität der Zentralregierung wird unter anderem vom nach Unabhängigkeit strebenden "Somaliland" im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen Al-Shabaab-Miliz in Frage gestellt. Grundsätzlich finden in fast allen Regionen Somalias südlich von Puntland regelmäßig örtlich begrenzte Kampfhandlungen zwischen AMISOM (African Union Mission in Somalia) bzw. somalischen Sicherheitskräften und Al-Shabaab statt. Schwerpunkte der Auseinandersetzungen sind insbesondere die Regionen Lower Jubba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle. Die Region Middle Jubba steht in weiten Teilen unter Kontrolle von Al-Shabaab. Nach Angaben der United Nation Assistance Mission for Somalia (UNSOM) wurden landesweit zwischen dem 01.01.2018 und dem 31. 10.2018 insgesamt 1.122 Zivilisten bei Kämpfen oder Anschlägen getötet oder verletzt. Im Vorjahr hatte allein ein verheerender Anschlag am 14.10.2017 in Mogadischu mindestens 587 Tote und 316 Verletzte gefordert. Periodisch wiederkehrende Dürreperioden mit Hungerkrisen und die äußerst mangelhafte Gesundheitsversorgung sowie der mangelhafte Zugang zu sauberem Trinkwasser und das Fehlen eines funktionierenden Abwassersystems machen Somalia zum Land mit dem fünftgrößten Bedarf an internationaler Nothilfe weltweit (vgl. zum Ganzen den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 04.03.2019, Stand: Januar 2019, S. 4 und 16).

35 Somalia ist gegenwärtig faktisch zweigeteilt. In den Gliedstaaten Süd- und Zentralsomalias (und der Bundeshauptstadt Mogadischu) herrscht in vielen Gebieten Bürgerkrieg. Die somalischen Sicherheitskräfte kämpfen mit Unterstützung der vom UN-Sicherheitsrat mandatierten Friedensmission der Afrikanischen Union AMISOM gegen die radikal-islamistische, al-Qaida-affiliierte Al-Shabaab-Miliz. Die Gebiete sind nur teilweise unter der Kontrolle der Regierung, wobei zwischen der im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkten Kontrolle der somalischen Bundesregierung und der Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete durch die Regierungen der föderalen Gliedstaaten Somalias, die der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen, unterschieden werden muss. Weite Gebiete stehen aber auch unter der Kontrolle der Al-Shabaab-Miliz oder anderer Milizen. Diese anderen Milizen sind entweder entlang von Clan-Linien organisiert oder, im Falle der Ahlu Sunna Wal Jama‘a, auf Grundlage einer bestimmten religiösen Ausrichtung. Zumindest den Al-Shabaab-Kräften kommen als de facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihnen kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu. Der Gliedstaat Puntland State of Somalia, der das Horn von Afrika im engeren Sinne umfasst, hat sich 1998 mit internationaler Unterstützung konstituiert. Er strebt keine Unabhängigkeit von Somalia an und ist einer der fünf offiziellen föderalen Gliedstaaten Somalias, wenngleich mit größerer Autonomie. Es konnten einigermaßen stabile staatliche Strukturen etabliert werden. Al-Shabaab kontrolliert hier keine Gebiete mehr, sondern ist nur noch in wenigen schwer zugänglichen Bergregionen mit Lagern vertreten, ebenso wie der somalische Ableger des sog. "Islamischen Staats". Stammesmilizen spielen im Vergleich zum Süden eine untergeordnete Rolle. Allerdings ist die Grenzziehung im Süden sowie im Nordwesten nicht eindeutig, was immer wieder zu kleineren Scharmützeln, im Süden auch zu schwereren gewaltsamen Auseinandersetzungen führt.

36 Das Gebiet der früheren Kolonie Britisch-Somaliland im Nordwesten Somalias hat sich 1991 für unabhängig erklärt, wird aber bisher von keinem Staat anerkannt. Allerdings bemühen sich die Nachbarn in der Region sowie zunehmend weitere Staaten in Anerkennung der bisherigen Stabilisierungs- und Entwicklungsfortschritte um pragmatische Zusammenarbeit. Das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft wurde durch die mehrfache Verschiebung der Parlamentswahlen und schwerwiegende Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit dem Abkommen zum Betrieb des Hafens von Berbera auf die Probe gestellt. Al-Shabaab kontrolliert in Somaliland keine Gebiete. Die Grenze zu Puntland ist allerdings umstritten, hier kam es im Jahr 2018 zu zum Teil heftigen militärischen Auseinandersetzungen zwischen "somaliländischen" und somalischen (puntländischen) Truppen.

37 Grundsätzlich gilt, dass die vorhandenen staatlichen Strukturen sehr schwach sind und wesentliche Staatsfunktionen von ihnen nicht ausgeübt werden können. Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden (vgl. zum Ganzen den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts a.a.O., S. 5).

38 Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist in weiten Landesteilen Somalias nicht gewährleistet. Es gibt keinen sozialen Wohnraum oder Sozialhilfe. Die erweiterte Familie inklusive des Sub- Clans oder Clans dient jedoch traditionell als soziales Sicherungsnetz und bietet oftmals zumindest einen rudimentären Schutz. Hilfsprojekte der UN oder nichtstaatlicher Hilfsorganisationen erreichen in der Regel nicht alle Bedürftigen. Trotz großer internationaler humanitärer Kraftanstrengung konnten auch während der jüngsten Dürre Hungertote nicht verhindert werden, wenngleich eine flächendeckende Hungersnot abgewendet werden konnte. Diese Angaben zu Somalia gelten im Großen und Ganzen auch für "Somaliland". Allerdings ist es den Menschen aufgrund der dort besseren Sicherheitslage und der grundsätzlich besseren Organisation der staatlichen Stellen und besseren staatlichen Interventionen im Krisenfalle rascher möglich, den Lebensunterhalt wieder aus eigener Kraft zu bestreiten. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrerinnen und Rückkehrer. Der UNHCR und andere internationale Partner unterstützen seit 2014 die freiwillige Rückkehr von Somaliern aus Kenia. Grundlage ist ein trilaterales Abkommen zwischen Kenia, Somalia und dem UNHCR aus dem Jahre 2013. Die Bundesregierung unterstützt ein Vorhaben in der Region Jubbaland (hauptsächlich in Kismaayo), das der Vorbereitung der aufnehmenden Gemeinden für freiwillige Rückkehrer dient. Seit Abschluss des trilateralen Abkommens kehrten mit Unterstützung des UNHCR über 82.000 Somalier aus Kenia vor allem nach Kismaayo und das südliche Jubbaland zurück, wobei im vergangenen Jahr eine Ausweitung der Rückkehrgebiete zu verzeichnen war. Menschenrechtsorganisationen mahnen gleichwohl die prekäre Situation der Rückkehrer in Somalia an (vgl. zum Ganzen den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts a.a.O., S. 20).

39 Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt nach Angaben der WHO 54 Jahre für Männer und 57 Jahre für Frauen. Mütter und Säuglingssterblichkeit sind laut UNICEF mit die höchsten weltweit. Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu trinkbarem Wasser oder zu hinreichenden sanitären Einrichtungen. Die öffentlichen Krankenhäuser sind mangelhaft ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Zudem behindert die unzureichende Sicherheitslage ihre Arbeit. Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen örtlicher (islamistischer) Machthaber unterbrochen werden. Die Versorgungslücke, die der Abzug der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) im August 2013 hinterließ, ist nach wie vor nicht geschlossen. Im Mai 2017 hat MSF, zunächst begrenzt auf Puntland, seine Arbeit in Somalia wiederaufgenommen. Dagegen kündigte das Internationale Komitee des Roten Kreuzes im Zuge jüngster Sicherheitszwischenfälle (u.a. die Entführung einer deutschen Mitarbeiterin im Mai) eine Überprüfung seiner Aktivitäten und eine Reduzierung seines Engagements in den Al-Shabaab-kontrollierten Gebieten im Süden des Landes an (vgl. zum Ganzen den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts a.a.O., S. 21).

40 Generell hätte Somalia großes wirtschaftliches Potential, sei es im Agro-Business, in der Viehzucht, der Fischerei oder im Handel, bei erneuerbaren oder anderen Energiequellen. Die Diaspora investiert auch seit mehreren Jahren auf unterschiedliche Art in ganz Somalia. Laut Schätzungen überweist die Diaspora pro Jahr mehr als 1,3 Milliarden US-Dollar in die Heimat. Damit ist die somalische Wirtschaft aber gleichzeitig eine der am meisten von Auslandsüberweisungen abhängigen Ökonomien der Welt. Doch noch gehört Somalia zu den ärmsten Ländern der Erde. Fehlende Daten machen es schwierig, die makroökonomische Situation Somalias ausreichend beschreiben zu können. Schätzungen zufolge ist das BIP im Jahr 2015 um 5% gestiegen, im Jahr 2016 um 6%. Die Prognose für 2017 lautete auf ein Wachstum von 2,5%. Dabei ist dieses Wachstum vor allem im urbanen Raum entstanden und von Konsum, Auslandsüberweisungen und Gebergeldern abhängig. Zugang zu Bildung und Arbeit stellt in vielen Gebieten eine Herausforderung dar. Das gegebene Wachstum des BIP ist in Somalia ein urbanes Phänomen, getrieben vom Konsum, von Hilfen aus dem Ausland und von Überweisungen aus der Diaspora (vgl. zum Ganzen Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Somalia, 12.01.2018, S. 116 f. m.w.N.).

41 2015 wurde ein Wirtschaftsaufschwung am Hafen Mogadischus registriert. Dank der reduzierten Bedrohung durch Piraterie und die dadurch verbesserte Sicherheitslage interessieren sich immer mehr Investoren für Mogadischu. Die somalische Wirtschaft ist jedoch im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist nach wie vor von der Tierhaltung und Fischerei abhängig und damit externen und Umwelt-Einflüssen besonders ausgesetzt. Es kann angenommen werden, dass es in Mogadischu viel mehr Arbeitsmöglichkeiten gibt als an anderen Orten Somalias. Der ökonomische Wiederaufbau verlangt sowohl nach erfahrenen, ausgebildeten Arbeitskräften, als auch nach jungen Menschen ohne Bildung und Arbeitserfahrung. In der Stadt gibt es eine steigende Nachfrage nach Hilfsarbeitern. Früher hatten die Nicht-Ausgebildeten größere Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. Mit der steigenden Kaufkraft der Bevölkerung steigt aber auch die Nachfrage nach Dienstleistungen, z.B. nach Reinigungskräften oder anderer Hausarbeit. Mit der zunehmenden Sicherheit in Mogadischu sind auch aus anderen Teilen des Landes unausgebildete Arbeitskräfte auf der Suche nach Arbeit in die Hauptstadt gekommen. Dementsprechend sind unqualifizierte Arbeitskräfte, bei denen es nur um physische Kraft geht (Bauwirtschaft, Hafenarbeiter etc.), in Mogadischu zahlreich verfügbar. Junge Kandidaten werden bevorzugt. Einen großen Bedarf gibt es an folgenden ausgebildeten Kräften und Fähigkeiten - bzw. womöglich auch an Ausbildungswilligen: Handwerker (Tischler, Maurer, Schweißer etc.); im Gastgewerbe (Köche, Kellner etc.); Schneider; Ingenieure; medizinisches Personal; fortgeschrittene IT- und Computerkenntnisse; Agrarfachwissen; Lehrkräfte auf allen Ebenen. Einen Bedarf gibt es auch an folgenden Arbeitskräften und Fähigkeiten: Mechaniker, Elektriker, Installateure, Fahrer von Spezialfahrzeugen; Betriebswirte und Buchhalter; Verkauf und Marketing; Englisch-Sprechern; IT- und Computerkenntnisse. Der Mangel an Fachkräften ist so groß, dass in manchen Bereichen auf Gastarbeiter zurückgegriffen wird (z.B. im Gastgewerbe auf Kenianer und Somaliländer oder im Baugewerbe auf Handwerker aus Bangladesch). Weil freie Arbeitsplätze oft nicht breit beworben werden und die Arbeitgeber den Clan und die Verwandtschaft eher berücksichtigen als erworbene Fähigkeiten, haben Bewerber ohne "richtige" Verbindungen oder aus Minderheiten sowie Frauen, Witwen und Migranten ohne Familien schlechtere Chancen. Arbeitssuchende greifen also auf ihre privaten Netzwerke zurück. Größere Firmen platzieren Jobangebote auch an Hauswänden oder in lokalen Medien. Männliche Hilfsarbeiter stellen ihre Arbeitskraft frühmorgens an bestimmten Plätzen zur Verfügung (Mogadischu: Bakara; Baidoa: Kilo 7; Kismayo: Golol Place). Der militärische Erfolg gegen Al-Shabaab in Mogadischu hat dazu geführt, dass viele Somali aus der Diaspora zurückgekehrt sind. Die Rückkehrer haben investiert und gleichzeitig eine wachsende Nachfrage geschaffen. Außerdem traten neue Investoren in den Vordergrund, z.B. die Türkei, China und die Golf-Staaten. Die Wirtschaft von Mogadischu hat begonnen zu wachsen. Dies wird angesichts des Baubooms am offensichtlichsten. Heute ist Mogadischu vom Wiederaufbau, ökonomischer Wiedererholung und Optimismus gekennzeichnet. Supermärkte, Restaurants und Hotels wurden neu geöffnet. Auch in anderen, der Al-Shabaab abgerungenen Städten steigt die Zahl wirtschaftlicher Aktivitäten (vgl. zum Ganzen BFA, a.a.O., S. 118 ff. m.w.N.).

42 Speziell mit Blick auf die vom Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Entscheidung maßgeblich herangezogenen Lebensmittelknappheit aufgrund der im Jahr 2017 weiter verschärften Dürresituation ist nach gegenwärtiger Erkenntnislage ebenfalls eine nicht unerhebliche Verbesserung der Gesamtsituation nicht zu verkennen. Konstatierte das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen noch im Januar 2018, dass aufgrund des Ausfalls von vier aufeinanderfolgenden Regenzeiten und drei Jahren Dürre eine erhebliche humanitäre Krise entstanden sei (vgl. dazu im Einzelnen BFA, a.a.O., S. 121 f. m.w.N.; die beiden wesentlichen Regenzeiten in Somalia sind Gu - regelmäßig im Zeitraum von April bis Juni - und Deyr - regelmäßig im Zeitraum von Oktober bis Dezember; vgl. hierzu nur Food Security and Nutrition Analysis Unit - Somalia - FSNAU, Somalia Rainfall Performance, 2001-2019: Deviation from Long Term Mean, auf der Homepage fsnau.org eingestellt am 20.06.2019 sowie FSNAU, Quarterly Brief - Focus on Gu 2019 Season Early Warning, eingestellt am 29.04.2019), heißt es in der am 17.09.2018 in das Länderinformationsblatt zu Somalia - Somaliland vom 12.01.2018 eingefügten Kurzinformation unter der Überschrift "Positiver Trend bei der Ernährungslage" auszugsweise: "Nach den überdurchschnittlichen Gu-Regenfällen 2018 (März/April-Juni) wird die Getreideernte die größten Erträge seit 2010 einbringen. Die Lage bei der Nahrungsversorgung hat sich weiter verbessert, dies gilt auch für Einkommensmöglichkeiten und Marktbedingungen. Die Preise für unterschiedliche Grundnahrungsmittel haben sich in Mogadischu gegenüber dem Vorjahr drastisch verbilligt und liegen nunmehr unter dem Fünfjahresmittel. .... Insgesamt hat sich die Ernährungssituation verbessert, auch wenn es im ganzen Land noch eine hohe Rate an Unterernährung gibt - speziell unter IDPs."

43 Dem entspricht die von der FSNAU, einer von der Welternährungsorganisation FAO verwalteten Organisationseinheit, die sich maßgeblich mit der Nahrungsmittelsicherheit in Somalia befasst, erstellte mehrjährige Übersicht über die Regenfälle in Somalia. Danach zählen die Niederschläge während der Gu-Regenzeit in den Monaten April und Mai 2018 sowie im Monat Mai 2019 zu den ergiebigsten im Berichtszeitraum 2001- 2019, während die Jahre 2016 und 2017 gerade in den Monaten der genannten Regenzeiten erheblich unter dem Langzeit-Mittel lagen (FSNAU, 20.06.2019, ebenda; vgl. ferner zu den positiven Auswirkungen der überdurchschnittlichen Regenfälle während der Gu-Regenzeit des Jahres 2018 auf die allgemeine Ernährungssituation auch FSNAU, Food Security Outlook Update, April to September 2018 sowie United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs – OCHA, Somalia Humanitarian Snapshot - as of 6 August 2018). Der - im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - aktuellste Food Security Outlook zu Somalia der FSNAU vom 01.07.2019 bietet insoweit eine differenzierte Einschätzung, wonach die ergiebigen Regenfälle zwar einerseits den Dürre-Zyklus in den meisten Gebieten unterbrochen hätten, zugleich exzessiver Regen aber auch Überschwemmungen und Schäden an Straßen und Häusern sowie einige Todesfälle verursacht habe (FSNAU, Somalia Food Security Outlook, June 2019 to January 2020, auf der Homepage fsnau.org eingestellt am 01.07.2019, dort S. 2), und setzt für Mogadischu für den genannten Zeitraum prognostisch den mittleren Wert von "3: Crisis" (= Krise) auf einer Skala von "1: Minimal" (= minimal) bis "5: Famine" (= Hungersnot) im Rahmen der Bewertung der gegenwärtigen Nahrungsmittelsicherheit ("Acute Food Insecurity Phase") an (ebenda).

44 Abgesehen davon, dass auf Grundlage des genannten rechtlichen Maßstabs nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ohnehin unter Vornahme aller (auch weiteren, namentlich individuellen) Umstände des Falles in jedem Einzelfall zu prüfen ist, wie sehr die allgemeine Dürresituation in Somalia den jeweiligen Kläger persönlich betreffen würde, vermag der Senat angesichts des Vorstehenden nicht zu erkennen, dass nach gegenwärtiger Erkenntnislage in Somalia eine derart prekäre humanitäre Situation und insbesondere eine derart unzureichende allgemeine Versorgungslage besteht, dass eine Rückführung nach Somalia, insbesondere nach Mogadischu, in Anwendung von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK generell ausgeschlossen wäre.

45 bb) Im Einklang hiermit geht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner jüngeren Rechtsprechung - anders als noch in seiner Entscheidung in der Sache "Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich" vom 28.06.2011 (Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681 Rn. 248 ff.) - im Hinblick auf die deutlich verbesserte Sicherheitslage nicht (mehr) davon aus, dass die derzeitige Lage in Mogadischu dort jeden in der Stadt der echten Gefahr einer Behandlung aussetzt, die gegen Art. 3 EMRK verstößt, weshalb nunmehr jeweils im Einzelfall zu fragen ist, ob die persönlichen Umstände des jeweiligen Beschwerdeführers so seien, dass dessen Rückführung nach Mogadischu Art. 3 EMRK verletzen würde (vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 10.09.2015 "R.H./Schweden", Nr. 4601/14, NVwZ 2016, 1785 Rn. 62 ff., insb. 68 unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 05.09.2013 "K.A.B./Schweden", Nr. 866/11, Nr. 87 ff.; im Urteil vom 10.09.2015 im Einzelfall verneint für eine Frau mit familiärer Unterstützung in Mogadischu, die nicht auf die Unterkunft in einem Lager für Flüchtlinge angewiesen war). Es kann mit Blick hierauf dahingestellt bleiben, ob in der Region Mogadischu gleichwohl weiterhin ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG besteht, denn jedenfalls ist nach der dargestellten Erkenntnislage gegenwärtig die erforderliche Gefahrendichte für die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne dieser Vorschrift nicht gegeben (vgl. in diesem Sinne bereits die Bewertung durch das OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2015 - 10 A 10689/15 -, juris Rn. 35 ff.; ebenso BayVGH, Urteil vom 12.07.2018 - 20 B 17.31292 -, juris Rn. 22 ff., jeweils m.w.N.; zur Heranziehung dieses Kriteriums im Rahmen der bei der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellenden Gesamtwürdigung vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 439 f. m.w.N.).

46 Schließlich bestehen nach der Rechtsprechung der beiden genannten Oberverwaltungsgerichte auch mit Blick auf die allgemeine schlechte Versorgungslage in Somalia keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung, sofern nicht besondere Umstände des Einzelfalls eine andere Bewertung gebieten (vgl. hierzu nochmals OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2015, a.a.O., Rn. 46 ff., sowie BayVGH, Urteil vom 12.07.2018, a.a.O., Rn. 31 ff., jeweils m.w.N. betreffend arbeitsfähige junge Männer ohne akute gesundheitliche Beschwerden mit familiärem Rückhalt in Somalia; vgl. in diesem Sinne auch VG Karlsruhe, Urteil vom 10.10.2018 - A 14 K 4941/16 -, juris Rn. 72 ff.). [...]