VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Gerichtsbescheid vom 08.10.2018 - 12 K 200/18.A - asyl.net: M27542
https://www.asyl.net/rsdb/M27542
Leitsatz:

1. Ein nach der Ausreise aus Bulgarien geborenes Kind einer in Bulgarien als schutzberechtigt anerkannten Mutter hat nicht automatisch Anspruch auf Zuerkennung des gleichen Schutzstatus in Bulgarien.

2. Für besonders Schutzbedürftige (hier eine Familie mit Kleinkind) besteht ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Bulgariens.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bulgarien, in Deutschland geborenes Kind, internationaler Schutz in EU-Staat, Unzulässigkeit, besonders schutzbedürftig, Abschiebungsverbot, Drittstaatenregelung,
Normen: VO 604/2013 Art. 20 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, EMRK Art. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Insbesondere ist Bulgarien nicht gemäß Art. 2 0 Abs. 3 VO 604/2013 für die Prüfung ihres Asylantrages zuständig. Diese Vorschrift ist auf die vorliegende Konstellation nicht anwendbar. Nach Art. 20 Abs. 3 VO 604/2013 ist für die Zwecke der Dublin III-VO die Situation eines mit dem Antragsteller eingereisten Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Dies gilt gemäß Art. 20 Abs. 3 Satz 2 VO 604/2013 auch bei Kindern, die - wie die Klägerin - nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden. Gegen eine Anwendbarkeit des Art. 20 Abs. 3 VO 604/2013 spricht vorliegend der insoweit eindeutige Wortlaut der Vorschrift. Denn die in Bulgarien schutzberechtigte Mutter der Klägerin als deren Familienangehörige im Sinne des Art. 2 Buchst. g) VO 604/2013 ist kein "Antragsteller" im Sinne des Art. 20 Abs. 3 VO 604/2013. Nach der Legaldefinition des Art. 2 Buchst c) VO 604/2013 ist "Antragsteller" derjenige, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde. "Begünstigter internationalen Schutzes" hingegen ist nach der Legaldefinition des Art. 2 Buchst. f) VO 604/2013 derjenige, dem internationaler Schutz zuerkannt wurde. Die Mutter der Klägerin zählt zum letztgenannten Personenkreis. Ihr wurde nach den Feststellungen des Bundesamtes in Bulgarien internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt, so dass über ihren Asylantrag endgültig entschieden wurde. Dementsprechend ergibt sich aus der VO 604/2013 auch keine Pflicht Bulgariens, die Mutter der Klägerin wieder aufzunehmen. Denn das Verfahren zur Bestimmung des für eine Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaates nach Art. 20 Abs. 1 VO 604/2013 wird (nur) eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Dieses Verfahren ist indes nicht mehr einschlägig, wenn der Ausländer - wie hier die Mutter der Klägerin - bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nach dortigem Antrag auf internationalen Schutz den Flüchtlingsstatus erhalten hat. Infolge dessen sieht auch Art. 18 Abs. 1 Buchst. a) bis d) VO 604/2013 keine Aufnahmepflicht des zuständigen Mitgliedsstaates im Falle des positiven Bescheides über einen Antrag auf internationalen Schutz vor. Schließlich fehlt es auch an einer die analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 VO 604/2013 eröffnenden Regelungslücke. Denn der Fall, dass ein Familienangehöriger bereits Begünstigter internationalen Schutzes ist, wird ausdrücklich durch Art. 9 VO 604/2013 - und zwar abweichend von Art. 20 Abs. 3 VO 604/2013 - geregelt. Nach Art. 9 VO 604/2013 ist ein Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, wenn der Antragsteller einen Familienangehörigen hat, der - ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat - in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. Aber auch hieraus ergibt sich vorliegend keine Zuständigkeit Bulgariens. Weder die Klägerin noch ihre Eltern, namentlich ihre Mutter, haben - soweit ersichtlich - schriftlich oder auf andere Weise erkennbar kundgetan, dass sie eine Prüfung des Asylantrags der Klägerin in Bulgarien wünschen. In Bezug auf die Klägerin ist mithin die Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

2. Die Regelung in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides kann gleichfalls keinen Bestand haben und ist aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil einer Abschiebung der Klägerin § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegenstehen. In Bezug auf den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat Bulgarien (vgl. Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides) liegen entsprechende Abschiebungsverbote vor. Zwar halten der bulgarische Staat und teilweise für ihn einspringende karitative Organisationen nach den Erkenntnissen des beschließenden Gerichts den Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU entsprechende Leistungen (vor allem Sozialhilfeleistungen, Unterkunft, medizinische Versorgung, Integrationsleistungen) vor. Diese tatsächlich zu erlangen, verlangt jedoch von hilfebedürftigen Schutzberechtigten wie der Klägerin eine erhebliche Eigeninitiative und erhebliche Anstrengungen, die in der Regel von alleinstehenden gesunden jungen Menschen erwartet werden können, nicht aber von besonders schutzbedürftigen Personen wie (unbegleiteten) Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Alleinerziehenden oder Familien mit minderjährigen Kindern oder Personen mit schweren Erkrankungen (vgl. etwa die Aufzählung in Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU). Zu dieser besonders schutzbedürftigen Personengruppe zählen auch die Klägerin und ihre Eltern, da es sich bei ihnen um eine Familie mit einem Kleinkind handelt, die unter den gegebenen Umständen voraussichtlich nicht in der Lage wären, sich den erschwerten Bedingungen in Bulgarien die notwendigen sozialen Leistungen zu verschaffen und daher binnen kürzester Zeit schwerste Schäden erleiden würden. Nicht zuletzt die Suche von anerkannten Schutzberechtigten nach einer Unterkunft stellt sich, u.a. aufgrund von Sprachbarrieren, als schwierig dar und fordert u.U. ein Maß an Eigeninitiative, das von einer Familie mit Kleinkindern nicht ohne weiteres erwartet werden kann, was umso schwerer wiegt, als die an eine Meldeadresse in Bulgarien anknüpfende Ausstellung eines Ausweisdokuments grundsätzlich auch Voraussetzung für den Sozialhilfebezug ist. Angesichts dieser Erschwerungen liegen nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer in Fällen der vorliegenden Art in der Regel - so auch hier - Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor (vgl. etwa die Beschlüsse des VG Minden vom 10. November 2017 - 12 L 2159/17.A -, vom 16. Oktober 2017 - 12 L 1300/17.A -, und vom 28. September 2017 - 12 L 2061/17.A -; vgl. außerdem BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. August 2017 - 2 BA 863/17-, juris Rn. 16 ff.).

Der Klägerin steht zudem ein Anspruch auf die Feststellung zu, dass für sie ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Bulgariens vorliegt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

3. Die in Ziffer 3 des Bescheides vom 5. Januar 2018 enthaltene Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtswidrig. Soll ein Antragsteller - wie hier die Klägerin - in einen sicheren Drittstaat abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG). Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an (§ 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG). Die letztgenannte Norm ist hier anwendbar. § 34 AsylG bestimmt, dass das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG eine schriftliche Abschiebungsandrohung erlässt, wenn ein Antragsteller nicht als Asylberechtigter anerkannt wird, ihm weder die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, noch ihm subsidiärer Schutz gewährt wird, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise zulässig ist und er keinen Aufenthaltstitel besitzt. Diese Voraussetzungen sind hier schon deshalb nicht erfüllt, weil einer Abschiebung der Klägerin - wie ausgeführt - § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegenstehen. [...]