VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 17.07.2019 - 20 K 141.17 A - asyl.net: M27525
https://www.asyl.net/rsdb/M27525
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für verwitwete, alleinstehende Afghanin ohne soziales Netzwerk:

1. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass jeder Frau - unabhängig von Vorverfolgung - bei Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung droht. Vielmehr kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an.

2. Insbesondere alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz sind in Afghanistan der Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung ausgesetzt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, alleinstehende Frauen, alleinerziehend, Diskriminierung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Einzelfall, Witwe, Flüchtlingsanerkennung, Vorverfolgung,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3e, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3a,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin zu 1. hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes - AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Sie befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Herkunftslandes, denn nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung droht der Klägerin zu 1. aufgrund ihrer individuellen Umstände bei einer Rückkehr nach Afghanistan zur Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, die auch vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG).

Nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln stellt sich die Situation von Frauen und insbesondere von alleinstehenden Frauen und Witwen in Afghanistan wie folgt dar:

Trotz einer Verbesserung der Lage afghanischer Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft gibt es auch weiterhin oftmals gravierende Menschenrechtsverletzungen zulasten von Frauen. Die Durchsetzung ihrer Gleichberechtigung gelingt angesichts einer stark konservativ-traditionell geprägten und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmten Justiz nur in eingeschränktem Maße. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam und unzureichend umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit. Frauen haben nur eingeschränkt Möglichkeiten, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, da dies oft schon an den schwierigen Transportmöglichkeiten und der eingeschränkten Bewegungsfreiheit ohne männliche Begleitung scheitert. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt sind weit verbreitet und kaum dokumentiert. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord. Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter. [...]

Frauen, die in der Wahrnehmung anderer gesellschaftliche Normen verletzen, sind Gewaltakten, Belästigungen und sonstigen Diskriminierungen in besonderem Maße ausgesetzt, denn im gesellschaftlichen Bereich bestimmen nach wie vor eine orthodoxe Auslegung der Scharia und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes die Situation von Frauen. [...]

Zu den gesellschaftlichen Normen gehört u.a. auch die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Angesichts dessen sind allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegt, die sie kaum in die Lage versetzen, zu überleben. [...]

Zwar können Frauen in größeren Städten theoretisch Schutz in Frauenhäusern finden (Auswärtiges Amt, Lagebericht 2018, S. 16). Diese verfügen aber nicht über eine ausreichende Anzahl von Plätzen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 30. September 2016 [SFH; Sicherheitslage 2016], S. 15). Zudem sind Frauenhäuser in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für "unmoralische Handlungen" und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. [...]

Unter Berücksichtigung dessen kann zwar nicht der Schluss gezogen werden, dass jeder Frau - unabhängig von einer Vorverfolgung - im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung droht. Maßgeblich ist vielmehr im konkreten Einzelfall die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen, sozialen, insbesondere familiären Hintergrund. Insbesondere alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) sind der Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung ausgesetzt (VG Köln, Urteil vom 25. Februar 2014 - 14 K 2512/12.A -, juris Rn. 26 und 31).

Zu dieser Gruppe gehört die Klägerin zu 1..

Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung und dem dort gewonnenen persönlichen Eindruck ist das Gericht davon überzeugt, dass es sich bei der Klägerin zu 1. um eine Witwe handelt, die über keine familiäre Struktur und kein sonstiges soziales Netzwerk in Afghanistan verfügt und bei einer Rückkehr gänzlich auf sich alleine gestellt wäre. [...]

Hinzu kommt, dass die Klägerin zu 1. Analphabetin ist und über keine Schulbildung verfügt. Es ist daher nicht zu erwarten, dass es ihr gelingen würde, Zugang zu Informationen über die wenigen vorhandenen Schutzeinrichtungen zu erhalten. Darüber hinaus wirkt sich erschwerend aus, dass die Kläger zur ethnischen Minderheit der Hazara gehören, die zwar nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer an ihre Volks- oder ihre schiitische Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung unterliegen (VG Berlin, Urteil vom 2. November 2017 - VG 20 K 20.17 A -; s. dazu auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Januar 2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 68; BayVGH, Beschluss vom 20. Januar 2017 - 13a ZB 16.30996 -, juris Rn. 11; VG Düsseldorf, Urteil vom 5. Januar 2017 - 18 K 2043/15.A -, juris; VG Augsburg, Urteil vom 8. Mai 2017 - Au 5 K 17.31204 -, juris). Gleichwohl sind Angehörige dieser Ethnie in Afghanistan nach wie vor Diskriminierungen ausgesetzt.

Die danach mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehende Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung geht gemäß § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG von einem nichtstaatlichen Akteur aus, ohne dass der Staat oder eine sonstige Organisation in der Lage wäre, die Klägerin zu 1. wirksam und dauerhaft im Sinne von § 3d Abs. 1 und 2 AsylG zu schützen. Frauen haben nur in sehr geringem Maße Zugang zur Justiz (EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 60). Die überwiegende Mehrheit der Fälle von gegen Frauen gerichteten Gewaltakten, einschließlich schwerer Verbrechen gegen Frauen, werden noch immer nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen geschlichtet, anstatt wie vom Gesetz vorgesehen strafrechtlich verfolgt. [...]

Zudem werden Frauen von Gerichten diskriminiert. Sie werden von Polizei und Justizsystem oft des "versuchten Ehebruchs" ("zina") bezichtigt, um Festnahmen für "moralische Vergehen" wie Weglaufen von Zuhause und Flucht vor häuslicher Gewalt oder Vergewaltigung zu rechtfertigen. [...]