VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 18.06.2019 - 4 A 37/18 - asyl.net: M27473
https://www.asyl.net/rsdb/M27473
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation für HIV-positive Person:

Zwar ist die medikamentöse und medizinische Versorgung von HIV-positiven Personen in der Russischen Föderation grundsätzlich gewährleistet. Allerdings ist ein Abschiebungsverbot anzunehmen, wenn infolge der HIV-Infektion eine schwere psychische Erkrankung mit Suizidgedanken vorliegt.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, HIV/AIDS, Suizidgefahr, psychische Erkrankung, Abschiebungsverbot, Einreisesperre, medizinische Versorgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Bei dem Kläger zu 1. liegt aufgrund seiner Erkrankungen ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bzgl. der Russischen Föderation vor. Nach dieser Regelung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Eine solche erhebliche individuelle und konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht zur Überzeugung des Gerichts für den Kläger zu 1. wegen seiner schweren psychischen Erkrankung in Verbindung mit seine HIV-Infektion im Falle einer Abschiebung in die Russische Föderation.

Der Kläger zu 1. leidet nach den vorliegenden fachärztlichen Stellungnahmen unter einer HIV-Infektion und bedarf insoweit der lebenslangen medikamentösen und medizinischen Versorgung (vgl. fachärztliche Stellungnahmen von Frau Dr. ... vom ... 2017 und ... 2018). Daneben leidet der Kläger zu 1. an einer Reaktion auf schwere Belastungen und depressiven Störungen mit gegenwärtig leichten bis mittelgradigen Episoden. Es wurde auch der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung ärztlicherseits geäußert (vgl. Stellungnahmen des ... Fachklinikums ... vom ... 2017 und ... 2018). Soweit es die HIV-Infektion des Klägers zu 1. angeht, so ist eine medikamentöse und medizinische Versorgung in der Russischen Föderation, insbesondere auch in der Herkunftsregion des Klägers zu 1. Tschetschenien, nach der vorliegenden Erkenntnislage grundsätzlich gewährleistet. So werden HIV-Infizierte in einem zentralen Register erfasst und erfolgt die Behandlung mittels antiretroviraler Medikamente, wie sie auch der Kläger zu 1. in der Bundesrepublik Deutschland erhält. Es gibt in Grosny ein spezielles HIV-Zentrum, wo die Behandlung des Klägers zu 1. auch in seiner Heimatregion abgedeckt sein wird. Nach einer Meldung des Klägers zu 1. wird dort auch eine kostenlose Behandlung stattfinden, die gesetzlich festgeschrieben ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13. Februar 2019, BFA, Länderinformationsblatt Russische Föderation, Stand. 12. November 2018, ZIRF Auskunft vom 27. Juli 2018 und ACCORD vom 30. Mai 2018). Allerdings verbietet sich zur Überzeugung des Gerichts eine isolierte Betrachtung der HIV-Infektion des Klägers zu 1., denn nach den überzeugenden Stellungnahmen des ... Fachklinikums wirkt sich diese Infektion in gravierender Art und Weise psychisch bei dem Kläger zu 1. aus, was für das Gericht nach dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindruck nachvollziehbar und plausibel ist. Insoweit stellen die Fachärzte des ... Fachklinikums die Depression des Klägers in den Kontext seiner Ängste und Befürchtungen bzgl. der Auswirkungen seiner HIV-Infektion im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation, die sich bei dem Kläger manifestiert haben. Diese Ängste und Befürchtungen sind auch für das Gericht nicht realitätsfremd, denn nach den vorliegen den Erkenntnissen gibt es in der Russischen Föderation eine beachtliche Zunahme bei den HIV-Infizierten und findet eine gesellschaftliche Stigmatisierung und Diskriminierung von entsprechend Infizierten und deren Angehörigen statt (vgl. ACCORD vom 30. Mai 2018). Von daher ist es überzeugend, dass die HIV-Infektion den Kläger zu 1. so gravierend psychisch belastet, dass er eine Lebensperspektive für sich und seine Familie in der Russischen Föderation nicht sieht und dies sogar zu suizidalen Gedanken geführt hat, deren Umsetzung für das Gericht nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung im Falle einer Abschiebung in die Russische Föderation höchst wahrscheinlich ist. Seitens der behandelnden Fachärzte werden gravierende Verschlechterungen im Gesundheitszustand des Klägers im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland befürchtet, da dies zu einer erheblichen psychischen Destabilisierung und persistierenden Verschlechterung der bestehenden Symptomatik mit sehr wahrscheinlicher Suizidalität führen wird (vgl. die vorgenannten Stellungnahmen von Frau Dr. ... und des ... Fachklinikums). Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass im Falle einer Abschiebung des Klägers zu 1. in die Russische Föderation erhebliche konkrete Gefahren für Leib und Leben in seiner Person bestehen. Es wird mit Sicherheit zu einer zeitnahen gravierenden Verschlechterung des bereits derzeit schlechten und angeschlagenen Gesundheitszustandes des Klägers zu 1. kommen und insbesondere zu einer nicht beherrschbaren psychischen Destabilisierung und Dekompensation mit einer akuten Gefährdung für Leib und Leben des Klägers zu 1. bei einer bestehenden Suizidalität. Für das Gericht steht fest, dass sich der Kläger zu 1. in kürzester Zeit im Falle einer Abschiebung aufgeben würde und ihm eine konkrete erhebliche Gefährdungslage für Leib und Leben bei Suizidalität droht, die auch zur Überzeugung des Gerichts nicht durch eine medikamentöse und medizinische Versorgung vor Ort in der Russischen Föderation abgewendet werden könnte. Damit ist dem Kläger zu 1. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bzgl. der Russischen Föderation zu gewähren und können die unter den Ziffern 2. bis 4. ihm gegenüber getroffenen Entscheidungen im Bescheid vom 1. August 2017 keinen Bestand haben. Angesichts dessen kann dahinstehen, ob auch die Verdachtsdiagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hätte erfüllen können. [...]