VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 01.08.2019 - 1 A 143/19 - asyl.net: M27456
https://www.asyl.net/rsdb/M27456
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für zwei junge afghanische Schwestern wegen "westlicher Prägung":

Frauen, deren Identität infolge eines längeren Aufenthalts in Europa "westlich" geprägt worden ist, drohen in Afghanistan Menschenrechtsverletzungen sowie Diskriminierung (unter Bezug auf OVG Niedersachsen, Urteil vom 21.9.2015 - 9 LB 20/14 (Asylmagazin 11/2015, S. 274 ff.) - asyl.net: M23228).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, westlicher Lebensstil, soziale Gruppe, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die Klägerinnen zu 1) und 2) haben gegen die Beklagte im maßgebenden Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 Asylgesetz - AsylG -), nämlich einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Zu der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist, sowie zur diesbezüglichen Erkenntnismittellage hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 21. September 2015 (- 9 LB 20/14 -, juris, Rn. 26 bis 27, 31ff.) ausgeführt:

"Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylVfG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylVfG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylVfG bilden danach auch solche afghanischen Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. Derart in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frauen teilen im erstgenannten Fall einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund, im zweitgenannten Fall bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylVfG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet.

Afghanische Frauen, die dieser sozialen Gruppe angehören, können sich je nach den Umständen des Einzelfalls aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG außerhalb der Islamischen Republik Afghanistan aufhalten. [...]"

Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich der Einzelrichter nach eigener Prüfung unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel vollumfänglich an. [...]

Ausgehend von den vorgenannten Maßstäben ist das Gericht davon überzeugt, dass den Klägerinnen zu 1) und 2) im Fall der Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist, ausgesetzt wären.

Der Einzelrichter hat keinen Zweifel daran, dass sie eine solche nachhaltige Prägung erfahren haben. Sie haben sich nach dem Eindruck des Einzelrichters gut in die deutsche Gesellschaft integriert. Sowohl die Klägerin zu 1) als auch die Klägerin zu 2) haben die deutsche Sprache erlernt und konnten sich in der mündlichen Verhandlung ohne Dolmetscher mit dem Gericht verständigen. Ihrem äußeren Erscheinungsbild nach unterscheiden sie sich nicht von jungen deutschen Frauen. Sowohl die Klägerin zu 1) als auch die Klägerin zu 2) trugen in der mündlichen Verhandlung kein Kopftuch und konnten dem Gericht glaubhaft und nachvollziehbar darlegen, dass sie dies auf ihren eigenen Antrieb hin getan haben und zukünftig kein Kopftuch mehr tragen würden. Die Klägerinnen zu 1) und 2) waren in der mündlichen Verhandlung wie deutsche Mädchen/Frauen ihres Alters gekleidet, ohne dabei aus verfahrenstaktischen Gründen gezielt westlich "gestylt" zu wirken. So war die Klägerin zu 1) geschminkt und trug Lippenstift, während die jüngere Klägerin zu 2) einen Kapuzenpullover trug. Auch haben die Klägerinnen zu 1) und 2) nach Überzeugung des Gerichts die Lebensgewohnheiten vieler deutscher junger Mädchen/Frauen angenommen. Sie erachten es als völlig selbstverständlich, dass sie das familiäre Umfeld verlassen und auch allein unterwegs sein können. Sie haben einen breit gefächerten Freundeskreis, der wohl im Wesentlichen aus den jeweiligen Klassenkameraden/innen besteht und mit dem sie Kontakt pflegen. Beide zählen sowohl Jungs als auch Mädchen zu ihren Freunden und legen auf die Freundschaften großen Wert. [...] Die Klägerinnen zu 1) und 2) sind darüber hinaus ihren glaubhaften Angaben zufolge nicht mehr in den Traditionen und Gebräuchen des Islams - der Staatsreligion der Islamischen Republik Afghanistan (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 31. Mai 2018, S. 10) - verhaftet. Sie leben den muslimischen Glauben nicht mehr in der Form, wie es von ihnen in der afghanischen archaisch-patriarchalischen Gesellschaft verlangt würde. In der mündlichen Verhandlung haben sie eine erhebliche Distanz zu den Glaubenstraditionen und dem religiösen Leben in ihrem Herkunftsland zum Ausdruck gebracht. [...]