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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13.06.2019 - 3 M 98.19 - asyl.net: M27367
https://www.asyl.net/rsdb/M27367
Leitsatz:

Wird ein minderjährig eingereister Flüchtling während des Asylverfahrens volljährig, so muss der Elternnachzug innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung beantragt werden.

1. Es bleibt hier offen, ob bei einer Versäumung behördlicher Fristen § 32 VwVfG zumindest analog anwendbar ist, oder ob es sich bei der vorgenannten Frist nach ihrem Sinn und Zweck um eine materielle Ausschlussfrist handelt, die der Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht zugänglich ist.

2. Ein Hinderungsgrund im Sinne des § 32 VwVfG liegt jedenfalls nicht vor, wenn Beteiligte einen Antrag nicht rechtzeitig stellen, weil sie von der Erfolglosigkeit des Antrags oder eines Rechtsmittels ausgehen

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Volljährigkeit, Elternnachzug, Familienzusammenführung, Drei-Monats-Frist, Flüchtlingsanerkennung, minderjährig,
Normen: AufenthG § 36a, AufenthG § 29 Abs. 2 S. 3, VwVfG § 32, VwVfG § 2 Abs. 3 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

2 Die Beschwerde der Klägerin gegen die erstinstanzliche Versagung von Prozesskostenhilfe ist nicht begründet. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden, § 166 Abs. 1 VwGO, § 114 Abs. 1 ZPO.

3 Es kann dahinstehen, ob der bei einer Versäumung behördlicher Fristen allein in Betracht kommende und hier gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 3 VwVfG grundsätzlich ausgeschlossene § 32 VwVfG zumindest analog anwendbar ist, oder ob es sich bei der von dem EuGH im Wege der Rechtsfortbildung unter Rückgriff auf Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 (Familienzusammenführungsrichtlinie) herangezogenen Drei-Monats-Frist von ihrem Sinn und Zweck her um eine materielle Ausschlussfrist handelt, die der Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht zugänglich ist (vgl. zu materiellen Ausschlussfristen BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2013 – 8 C 25/12 – juris Rn. 18; OVG Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 29. November 2017 – OVG 3 S 75.17 – juris Rn. 3). In beiden Fällen muss die Klage ohne Erfolg bleiben.

4 Hält man die verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hier für analog anwendbar, fehlt es bereits an einem Hindernis, aufgrund dessen es der Klägerin nicht möglich gewesen sein soll, nach der Anerkennung ihrer Tochter als Flüchtling im August 2015 während eines Zeitraumes von fast drei Jahren einen Visumantrag zur Familienzusammenführung nach § 36 Abs. 1 AufenthG zu stellen. Ein Hinderungsgrund im Sinne von § 32 VwVfG liegt nicht vor, wenn es ein Beteiligter aus freien Stücken unterlässt, rechtzeitig tätig zu werden, weil er von der Erfolglosigkeit des Antrags oder eines Rechtsmittels ausgeht (vgl. VGH München, Beschluss vom 14. Oktober 2014 – 22 A 13.40069 – juris Rn. 36; ebenso zu der entsprechenden prozessualen Regelung des § 60 VwGO BVerwG, Beschluss vom 15. März 1989 – 7 B 40/89 – juris Rn. 5; OVG Lüneburg, Beschluss vom 20. November 2007 – 2 LA 626/07 – juris Rn. 6 f.; Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl., § 60 Rn. 5).

5 Könnte sich ein Betroffener, der – wie die Klägerin - von einem Antrag bei einer Behörde abgesehen hat, weil er aufgrund der zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen höchstrichterlichen Rechtsprechung von der Erfolglosigkeit seines Antrags überzeugt war, nach einer Rechtsprechungsänderung auf die Wiedereinsetzungsvorschriften berufen, käme dies einer gesetzlich nicht vorgesehenen Korrekturmöglichkeit gleich. Der Gesetzgeber hat ein Wiederaufgreifen nur für bestandskräftig abgeschlossene Verwaltungsverfahren unter den Voraussetzungen des § 51 VwVfG eröffnet. Allerdings handelt es sich grundsätzlich nicht um eine Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, wenn sich lediglich die (höchstrichterliche) Rechtsprechung ändert (Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl., § 51 Rn. 104 ff.; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19.12.2006 – 1 BvR 2723/06 – juris). Dies gilt auch für Entscheidungen des EuGH, aufgrund derer die entgegenstehende nationale Rechtsprechung einer Überprüfung bedarf (BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 – 1 C 26/08 – juris Rn. 16). Aus demselben Grund kann die Klägerin auch kein Wiederaufgreifen eines – hier nicht durchgeführten - bestandskräftig abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens nach §§ 48, 49 VwVfG im Ermessenswege verlangen.

6 Abgesehen davon spricht gegen das Vorliegen eines Hinderungsgrunds, dass dem von dem Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Verfahren (Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9/12 – juris) ein nicht vergleichbarer Sachverhalt zugrunde lag, weil der im Bundesgebiet lebende Sohn der dortigen Kläger bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch nicht volljährig war.

7 Unabhängig von alledem ist hier – selbst wenn man die höchstrichterliche Rechtsprechung als Hinderungsgrund für eine Beantragung des begehrten Visums akzeptierte – seit dem Ende der versäumten Frist mehr als ein Jahr vergangen, sodass die Klägerin die versäumte Visumantragstellung nicht mehr nachholen kann, § 32 Abs. 3 VwVfG. Dies ist mit dem Urteil des EuGH vom 12. April 2018 – C-550/16 – vereinbar. Der EuGH verlangt eine angemessene Frist im Sinne eines inneren Zusammenhangs zwischen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an den volljährig gewordenen Flüchtling und dem Antrag auf Familienzusammenführung. Ein solcher Zusammenhang besteht jedenfalls bei einer Antragstellung rund 2 Jahre und 10 Monate nach der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr, sodass der Zweck von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht mehr erreicht werden kann.

8 Es läge ferner auch kein Fall höherer Gewalt im Sinne von § 32 Abs. 3 VwVfG vor, der ausnahmsweise ein Absehen von der Jahresfrist rechtfertigt. Selbst wenn man zu Gunsten der Klägerin davon ausginge, dass sie eine Visumantragstellung allein im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts unterlassen hätte, wäre die Sachlage nicht mit dem als höhere Gewalt anerkannten Fall vergleichbar, in dem eine falsche und irreführende Rechtsbehelfsbelehrung oder ein treuwidriges Verhalten der Behörde ursächlich für die Fristversäumnis war (dazu BVerwG, Urteil vom 18. April 1997 – 8 C 38/95 – juris Rn. 16). Eine mögliche Unvereinbarkeit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 2013 – 10 C 9/12 – mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Familienzusammenführungsrichtlinie war nicht ohne weiteres erkennbar. Dies gilt umso mehr, als sich das Bundesverwaltungsgericht mit Unionsrecht auseinandergesetzt und den Untergang des Nachzugsanspruchs der Eltern aus § 36 Abs. 1 AufenthG maßgeblich auf die nach deutschem Recht fehlende – aus seiner Sicht mit der Familienzusammenführungsrichtlinie im Einklang stehende - Möglichkeit der Eltern gestützt hat, ihren Aufenthalt im Bundesgebiet nach Erreichen der Volljährigkeit des Flüchtlings zu verstetigen (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 9/12 – juris Rn. 20; vgl. dazu auch BVerfG-K, Beschluss vom 11. Oktober 2017 – 2 BvR 1758/17 – juris Rn. 16). Hinzu kommt, dass sich das Bundesverwaltungsgericht nicht ausdrücklich dazu verhalten hat, ob der Nachzugsanspruch aus § 36 Abs. 1 AufenthG auch dann untergeht, wenn der unbegleitete minderjährige Flüchtling – wie die Tochter der Klägerin - bereits während des Asylverfahrens noch vor der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft volljährig wird.

9 Nichts anderes ergibt sich, wenn man die von dem EuGH statuierte Drei-Monats-Frist als materielle Ausschlussfrist ansieht. Es läge – wie ausgeführt - insbesondere kein Fall höherer Gewalt vor (vgl. zur höheren Gewalt bei materiellen Ausschlussfristen BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2013 – 8 C 25/12 – juris Rn. 30). [...]