VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 11.04.2019 - 1 K 2888/18 - asyl.net: M27325
https://www.asyl.net/rsdb/M27325
Leitsatz:

Für eine Identitätsfeststellung ist § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG als Ermächtigungsgrundlage nicht anwendbar:

Den unionsrechtlichen Vorgaben an einen "Rechtsrahmen", der gewährleistet, dass die praktische Ausübung der Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertritts­kontrollen haben kann, genügt § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG auch nach Inkrafttreten des Erlasses des Bundes­ministeriums des Inneren zur Anwendung von § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG vom 7. März 2016 (GMBl. 2016, S. 203) nicht (entgegen OVG Saarland, Urteil vom 21.02.2019 - 2 A 806/17 -, juris).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Bundespolizei, Identitätskontrolle, grenznaher Raum, Grenzkontrolle, Rechtsgrundlage,
Normen: BPolG § 23 Abs. 1 Nr 3, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 1, AEUV Art. 67 Abs. 2, EUV Art. 22, EUV Art. 23
Auszüge:

[...]

38 Aus den vorgenannten Vorschriften ergibt sich nach der Auslegung des EuGH die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Einhaltung des Unionsrechts durch die Schaffung und Wahrung eines "Rechtsrahmens" zu sichern, der gewährleistet, dass die praktische Ausübung der Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann (EuGH, Urteil vom 22.06.2010 - C-188/10 -, juris Rn. 73 f.; EuGH, Urteil vom 19.07.2012 - C-278/12 -, juris Rn. 68; EuGH, Urteil vom 21.06.2017 - C-9/16 -, juris Rn. 37). Die Mitgliedstaaten haben insbesondere dann, wenn Indizien darauf hindeuten, dass eine gleiche Wirkung wie bei Grenzübertrittskontrollen besteht, durch Konkretisierungen und Einschränkungen sicherzustellen, dass eine solche gleiche Wirkung vermieden wird. Insoweit muss eine nationale Regelung (wie § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG), die den Polizeibehörden eine Befugnis zur Durchführung von Identitätskontrollen einräumt, die zum einen auf das Gebiet an der Grenze des Mitgliedstaats zu anderen Mitgliedstaaten beschränkt und zum anderen unabhängig vom Verhalten der kontrollierten Person und vom Vorliegen besonderer Umstände ist, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, insbesondere das Ermessen lenken, über das diese Behörden bei der praktischen Handhabung der besagten Befugnis verfügen (EuGH, Urteil vom 22.06.2010 - C-188/10 -, juris Rn. 74; EuGH, Urteil vom 21.06.2017 - C-9/16 -, juris Rn. 39). Dieser erforderliche Rahmen muss hinreichend genau und detailliert sein, damit sowohl die Notwendigkeit der Kontrollen als auch die konkret gestatteten Kontrollmaßnahmen selbst Kontrollen unterzogen werden können (EuGH, Urteil vom 19.07.2012 - C-278/12 -, juris Rn. 76; EuGH, Urteil vom 21.06.2017 - C-9/16 -, juris Rn. 41).

39 3. Diesen Vorgaben genügt § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG auch nach Inkrafttreten des Erlasses vom 07.03.2016 nicht (entgegen OVG Saarland, Urteil vom 21.02.2019 - 2 A 806/17 -, juris). 40 § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG stellt allein nicht sicher, dass die dort vorgesehenen Identitätsfeststellungen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben (EuGH, Urteil vom 21.06.2017 - C-9/16 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.02.2018 - 1 S 1468/17 -, juris Rn. 81; Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 23 BPolG Rn. 11). [...]

45 Nach Ansicht des Gerichts können solche konkretisierenden Regelungen nur Vorschriften des Außenrechts (Gesetze im formellen Sinn, Rechtsverordnungen) sein; eine Verwaltungsvorschrift als Innenrecht der Verwaltung genügt vor dem Hintergrund des Unionsrechts zur Konkretisierung nicht (so auch Groh, NVwZ 2016, 1678, 1682; ders., NVwZ 2017, 1608, 1609; Halder/Ittner, ZJS 2018, 308, 314 ff.; Schenke/ Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 23 BPolG Rn. 10; Trennt, DÖV 2012, 216, 222; a.A. Graf Vizthum, ELR 2010, 236, 240; Kempfler, BayVBl. 2012, 9, 11 zu Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 BayPAG; wohl auch Michl, DÖV 2018, 50, 57; offen gelassen VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.02.2018 - 1 S 1468/17 -, juris Rn. 86). Das Unionsrecht erfordert zur Steuerung von verdachtsunabhängigen grenzpolizeilichen Befugnissen eine "nationale Regelung" (vgl. EuGH, Urteil vom 22.06.2010, a.a.O., 74 f.), die den Erfordernissen der Rechtssicherheit (vgl. EuGH, Urteil vom 22.06.2010, a.a.O., Rn. 75) dienen soll, hinreichend bestimmt ist und effektiven Rechtsschutz ermöglicht ("Kontrolle der Kontrolle", vgl. EuGH, Urteil vom 21.06.2017, a.a.O., Rn. 40; Urteil vom 19.07.2012, a.a.O., Rn. 76; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.02.2018 - 1 S 1468/17 -, juris Rn. 86). Der nationalen Regelung kommt demnach die Aufgabe zu, einen Maßstab für die gerichtliche Überprüfung der Kontrollen zu bilden (Groh, NVwZ 2017, 1608, 1609). Dies aber kann eine Verwaltungsvorschrift nicht gewährleisten. Hierfür spricht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache "TA-Luft" (Urteil vom 30.05.1991 - C-361/88 -, Slg 1991, I- 2567-2606), wonach Verwaltungsvorschriften grundsätzlich ungeeignet sind, der mitgliedstaatlichen Pflicht zur Umsetzung von EU-Richtlinien zu genügen. Denn der Gedanke, dass Verwaltungsvorschriften mangels Außenwirkung von Betroffenen nicht unmittelbar gerichtlich geltend gemacht werden können und überdies den betroffenen Bürgern häufig nicht bekannt seien, lässt sich vorliegend dahingehend fruchtbar machen, dass Verwaltungsvorschriften per se weniger Rechtssicherheit gewährleisten als formelle Gesetze (vgl. Trennt, DÖV 2012, 216, 222; VG Stuttgart, Urteil vom 22.10.2015 - 1 K 5060/13 -, juris Rn. 30).

46 Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass es sich um eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift handelt (anders wohl Michl, DÖV 2018, 50, 57). Zwar können ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften vermittelt durch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) Außenrechtswirkung entfalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.05. 2006 - 5 C 10.05 -, NVwZ 2006, 1184, 1188 m.w.N.; Voßkuhle/ Kaufhold, JuS 2016, 314, 315 f.), die gerichtliche Kontrolle richtet sich jedoch allein danach, wie die zuständigen Behörden die Verwaltungsvorschrift im maßgeblichen Zeitpunkt in ständiger Praxis  gehandhabt haben und in welchem Umfang sie infolgedessen an den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sind (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.04.2018 - 19 A 2261/16 -, juris Rn. 49). Weicht die Verwaltungspraxis demnach von der Verwaltungsvorschrift ab, ist eine gerichtliche Kontrolle an diesem Maßstab nicht möglich und der Betroffene in dieser Hinsicht faktisch rechtsschutzlos (Groh, NVwZ 2017, 1608, 1609; Halder/Ittner, ZJS 2018, 308, 316). Dies aber widerspricht den Vorgaben des Unionsrechts an einen justiziablen Rechtsrahmen für Personenkontrollen. [...]