Individuell begründetes Abschiebungsverbot für Transfrau wegen humanitärer Krise in Venezuela:
Abschiebungsverbot für eine Transfrau, weil Transsexuelle in der venezolanischen Gesellschaft diskriminiert werden und deshalb noch stärker unter der wirtschaftlichen und humanitären Krise leiden als die übrige Bevölkerung.
(Leitsätze der Redaktion)
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Zunächst hat der Kläger einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Voraussetzung liegt vor. Es kann dahinstehen, ob bei den venezolanischen Strafverfolgungsbehörden, insbesondere bei der Polizei, eine große Anzahl an Beamten landesweit ihre Kompetenzen gegenüber Transsexuellen, teils unter Anwendung körperlicher Gewalt, überschreiten und dies zu einem Abschiebungsverbot führt (so Verwaltungsgericht Dresden, Urteil vom 29.10.2012 - A 1 K 1411/09 -). Denn das Gericht hat im vorliegenden Einzelfall bereits erhebliche Zweifel, ob es dem Kläger aufgrund der derzeit prekären Versorgungslage in Venezuela möglich ist, an hinreichend Nahrungsmittel zu gelangen. Die Nahrungsmittel in Venezuela sind knapp und die Teuerungsrate für Nahrungsmittel steigt (vgl. Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland, Stellungnahme vom 25.01.2018 zu Anfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.07.2017). Internationale Organisationen warnen vor einer humanitären Krise (Handelsblatt, Artikel vom 03.06.2018, "Venezuela führt wegen Hyperinflation neue Währung ein"). Die schwere Wirtschaftskrise verursache Versorgungsschwierigkeiten und Versorgungsengpässe, wobei auch Güter des täglichen Bedarfs und Medikamente oft über längere Zeiträume nicht verfügbar seien (Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, Venezuela, Reisehinweise für Venezuela vom 23.05.2018). Der im Mai 2016 ausgerufene Ausnahmezustand über das gesamte Land gelte fort, wobei ein wirtschaftlicher und medizinischer Versorgungsnotstand bestehe (Auswärtiges Amt, Venezuela Reise- und Sicherheitshinweise vom 23.05.2018). Im ganzen Land komme es zu Ausfällen der Versorgung mit Trinkwasser und Strom (vgl. Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland, Stellungnahme vom 25.01.2018 zu Anfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.07.2017; Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland, Venezuela Reise- und Sicherheitshinweise vom 23.05.2018). Der gravierende Mangel an Nahrungsmitteln gehe vorwiegend zu Lasten von besonders hilfsbedürftigen Personen (vgl. Human Rights Watch, World Report 2018 vom 18.01.2018). Mehr als zwölf Prozent der Bevölkerung müssten mit zwei Mahlzeiten oder weniger auskommen (Amnesty International, Amnesty Report Venezuela, 21.05.2017). Die transsexuelfe Orientierung des Klägers begründet in Anbetracht der geringen sozialen Akzeptanz und der diskriminierenden Einschränkung seiner Rechte (vgl. Amnesty International, Stellungnahme vom 07.03.2018 zu Anfrage des Verwaltungsgerichts Dresden vom 01.02.2018; Auswärtiges Amt, Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Caracas, Stellungnahme vom 01.07.2008 zu Anfrage des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 08.04.2008, Stellungnahme vom 14.11.2011 zu Anfrage des Verwaltungsgerichts Dresden vom 02.09.2011) derart gefahrerhöhende Umstände, dass der Kläger zu einem besonders hilfsbedürftigen Teil der venezolanischen Bevölkerung zählt, deren Existenzminimum derzeit gefährdet wäre. Zwar verteilt die venezolanische Regierung Lebensmittel, deren Ausgabe von sogenannten "Lokalen Versorgungs- und Produktionskomitees" organisiert wird (vgl. ARD, Deutsche Welle, Bericht vom 01.03.2018, Venezuela: Der Hunger bedroht eine ganze Generation), jedoch hat das Gericht erhebliche Zweifel, ob der Kläger hiervon profitieren würde. Denn transsexuelle Personen werden von Staatsbediensteten diskriminiert und schikaniert (vgl. Amnesty International, Stellungnahme vom 07.03.2018 zu Anfrage des Verwaltungsgerichts Dresden vom 01.02.2018). Auch würden den Kläger beim Erwerb sonstiger Nahrungsmittel nicht hinnehmbare Einschränkungen erwarten, da transsexuelle Personen von der venezolanischen Gesellschaft abgelehnt werden. Insgesamt sei die venezolanische Gesellschaft von einer Einstellung geprägt, die bestimmte Personengruppen als Angriff auf die Männlichkeit erlebe (Auswärtiges Amt, Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Caracas, Stellungnahme vom 01.07.2008 zu Anfrage des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 08.04.2008). Transsexuelle müssen mit Diskriminierung, Beschimpfungen und tätlichen Angriffen rechnen (Auswärtiges Amt, Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Caracas, Stellungnahme vom 01.07.2008 zu Anfrage des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 08.04.2008). Diese geringe soziale Akzeptanz besteht auch gegenwärtig fort (Amnesty International, Stellungnahme vom 07.03.2018 zu Anfrage des Verwaltungsgerichts Dresden vom 01.02.2018). Vom Kläger darf nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 07.11.2013 - C-199/12 -) auch nicht erwartet werden, seine sexuelle Orientierung im Heimatland lediglich im Verborgenen auszuleben. Der Anerkennung eines für die Identität des Menschen derart bedeutsamen Merkmals wie seiner sexuellen Orientierung widerspräche es, wenn von den Mitgliedern der entsprechenden sozialen Gruppe verlangt würde, diese Orientierung geheim zu halten. [...]