VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 13.02.2019 - 19 A 984/18 - asyl.net: M27305
https://www.asyl.net/rsdb/M27305
Leitsatz:

Verfolgung von Frauen als soziale Gruppe im eritreischen Nationaldienst und Sippenhaft bei Desertion:

1. Nationaldienstpflichtigen Frauen droht in Eritrea in militärischen Trainingszentren sexuelle Gewalt. Dies stellt eine geschlechtsspezifische Verfolgung in Anknüpfung an die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen dar. Geschlechtsspezifische Verfolgung muss keine übergeordneten politischen Motive aufweisen (ausdrücklich entgegen VG Köln, Urteil vom 12.07.2018 - 8 K 15907/17.A - asyl.net: M27300). Ob die Verfolgung staatlich oder nichtstaatlich ist, kann dahinstehen, da der eritreische Staat zumindest keinen Schutz gewährt.

2. Verlöbnisse und lediglich kirchliche Ehen führen nicht zur Befreiung vom Nationaldienst.

3. Angehörige von desertierten Nationaldienstpflichtigen aus der Region Zoba Debub müssen damit rechnen, inhaftiert zu werden und dann anstelle der Desertierten in den Nationaldienst eingezogen zu werden. Derartige Sippenhaft ist vor allem in grenznahen Regionen verbreitet.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Eritrea, Upgrade-Klage, Nationaldienst, Ausnahme von der Dienstpflicht, Befreiung vom Nationaldienst, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Zoba Debub, Süden, Grenzregion, Eheschließung, religiöse Eheschließung, Unwirksamkeit der Eheschließung, Sippenhaft, sexuelle Gewalt, soziale Gruppe, Diskriminierung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3e, AsylG § 3c Nr. 1, AsylG § 3d Abs. 1 Nr. 1, AylG § 3d Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3a Abs. 3
Auszüge:

[...]

25 Nach diesen Maßstäben lässt sich aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Eritrea sowie den eigenen Angaben der Klägerin zur Überzeugung der Kammer feststellen, dass der Klägerin im Falle ihrer hypothetischen Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Denn sie ist nationaldienstpflichtig (dazu unter a)) und in diesem Rahmen ist es beachtlich wahrscheinlich, dass gegen die Klägerin geschlechtsspezifische Gewalt in Anknüpfung an ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen als bestimmte soziale Gruppe verübt wird (dazu unter b)).

26 a) Die Klägerin ist zur Ableistung des Nationaldienstes in vollem Umfang verpflichtet. [...]

29 aa) Die Klägerin ist nicht als Frau vom Nationaldienst ganz oder teilweise befreit.

30 Nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen ist der Nationaldienst obligatorisch (Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea: Update Nationaldienst und illegale Ausreise, 22.6.2016 (aktualisiert am 10.8.2016), S. 11 [G 8/16]).

31 bb) Die Klägerin ist nicht als Ehefrau vom Nationaldienst ganz oder teilweise befreit.

32 Dies ergibt sich schon daraus, dass in ihrem Fall nicht von einer wirksamen Eheschließung auszugehen ist. Denn die Klägerin hat in Eritrea (lediglich) kirchlich geheiratet (vgl. S. 2 der Anhörungsniederschrift v. 22.11.2017). Eine solche Ehe wird in Eritrea nicht als wirksam anerkannt. Die Ausstellung einer behördlichen Heiratsurkunde ist zwar nicht nötig, der Eintrag ins Register der "Kebabi-Verwaltung" (Gemeindeverwaltung) hingegen schon (EASO, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 56 [G 1/15]). Eine solche Registereintragung wurde, wie die Klägerin im Rahmen ihrer Parteivernehmung glaubhaft ausgeführt hat, aber nicht vorgenommen (vgl. S. 2 der Sitzungsniederschrift: "…Ich habe kirchlich geheiratet. Die Ehe wurde beim Staat nicht registriert. Sie wurde nur bei der Kirche registriert...").

33 cc) Die Klägerin ist nicht als Verlobte vom Nationaldienst ganz oder teilweise befreit.

34 Auch wenn man annimmt, dass die formunwirksame Ehe als Verlöbnis anzusehen ist, würde sich dies nicht zu Lasten der Klägerin auswirken, denn ein solches Verlöbnis führt nicht zur Befreiung vom Nationaldienst:

35 (1) Die Kammer vermag nicht der von der Beklagten angeführten Annahme des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts (Urt. v. 21.9.2018, 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 47) zu folgen, dass ein Verlöbnis zum Ausschluss vom militärischen Teil des Nationaldienstes führt. [...]

43 (3) Selbst wenn man aber entgegen den vorstehenden Ausführungen zu (2) davon ausginge, dass die Klägerin aufgrund eines angenommenen Verlöbnisses im Jahr 2010 heute von einer Einziehung zum Nationaldienstes grundsätzlich ausgenommen würde, drohte ihr gleichwohl eine Heranziehung zu diesem Dienst, und zwar aufgrund von Sippenhaft. Der Vortrag der Klägerin, sie habe einen Gestellungstermin erhalten (S. 3 der Sitzungsniederschrift), ist glaubhaft, weil er mit den Erkenntnissen von EASO (Bericht über Herkunftsländerinformationen, Länderfokus Eritrea, Mai 2015, S. 43 [G 1/15]) in Einklang steht. Danach müssen insbesondere Angehörige von Nationaldienstpflichtigen aus der Zoba Debub damit rechnen, für einige Zeit inhaftiert und sodann anstelle der Deserteure in den Nationaldienst eingezogen zu werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die Personen aus einer grenznahen Region kommen (EASO a.a.O.). Die Klägerin stammt aus den grenznahen Gebieten der Zoba Debub, nämlich aus (vgl. Teil 1 der Niederschrift zum Asylantrag, Bl. 18 der Asylakte). [...]

48 b) Im Rahmen des Nationaldienstes ist eine geschlechtsspezifische Verfolgungshandlung, insbesondere sexualisierte Gewalt, in Anknüpfung an das Merkmal "Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe" (§§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) aufgrund der persönlichen Umstände der Klägerin beachtlich wahrscheinlich. [...]

52 bb) Nationaldienstpflichtigen Frauen droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in militärischen Trainingszentren sexuelle Gewalt (vgl. auch VG Arnsberg, Urt. v. 27.6.2018, 12 K 3982/16.A, juris Rn. 44; VG Schwerin, Urt. v. 8.12.2017, 15 A 1278/17 As SN, juris Rn. 36), und zwar in Anknüpfung an ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen als soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG (dazu (1)) durch Akteure im Sinne des § 3c AsylG (dazu (2)), wobei zwischen der  Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund der Gruppenzugehörigkeit die gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung besteht (dazu (3)). [...]

58 (2) Die dargelegte geschlechtsspezifische Verfolgung geht von einem Akteur im Sinne des § 3c AsylG aus. Ob die sexuellen Übergriffe durch militärische Vorgesetzte als staatliche Handlungen, d.h. als eine vom Staat ausgehende Verfolgung im Sinne von § 3c Nr. 1 AsylG einzuordnen sind, kann dabei offen bleiben. Wenn das nicht der Fall sein sollte, läge eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG vor. Denn der eritreische Staat gewährt weiblichen Rekruten im Rahmen der militärischen Ausbildungszentren und des militärischen Teils des Nationaldienstes keinen Schutz gemäß § 3d Abs. 1 Nr. 1, 2 AsylG. [...]

59 [...] Diese Verfolgung knüpft an das Geschlecht an, weil die Vorgesetzten in militärischen Trainingszentren gegen Frauen und nicht auch gegen Männer sexuelle Gewalt anwenden, die Frauen also anders behandeln als die Männer (kritisch zur Bildung von "Untergruppen" Winfried Möller in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 3b AsylG Rn. 14 ff.). Damit liegt die erforderliche Zielgerichtetheit der Verfolgungshandlung vor (OVG Hamburg, Urt. v. 21.9.2018, 4 Bf 186/18.A, juris Rn. 71 f).

60 Die Zielgerichtetheit liegt hier auch dann vor, wenn die sexuelle Gewalt durch Soldaten als Handlung nichtstaatlicher Akteure aufgefasst würde, weil sie nur "bei Gelegenheit" der Ausübung des militärischen Dienstes erfolgt. Denn die Versagung von staatlichem Schutz gegen die Gewaltausübung zielt hier bei wertender Betrachtung gegen den Genderstatus der Frauen (vgl. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., § 26 Rn. 65). [...]

62 Weitere Umstände, als dass die Akteure der Verfolgung Frauen und nicht auch Männer auswählen, müssen nach Wortlaut und Systematik des Gesetzes nicht hinzutreten, um davon ausgehen zu können, dass eine Verfolgungshandlung an das Geschlecht anknüpft. Die geschlechtsspezifische Verfolgung von Frauen muss, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, insbesondere nicht übergeordnete politische Motive bei der Ausübung sexueller Gewalt – beispielhaft „Vergewaltigung als Kriegswaffe“ – aufweisen (so aber VG Köln, Urt. v. 12.7.2018, 8 K 15907/17.A., juris Rn. 39 ff.). [...]