OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 08.11.2018 - 10 LA 375/18 - asyl.net: M27289
https://www.asyl.net/rsdb/M27289
Leitsatz:

Prüfungsmaßstab der Art. 3 EMRK-Verletzung:

In sogenannten "Drittstaatskonstellationen" ist der Verstoß gegen Art. 3 EMRK auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig nicht an der individuell betroffenen Person zu messen. Vielmehr kommt es auf die "von den individuellen Besonderheiten
weitgehend unabhängige Beurteilung der Lage in dem bestimmten Abschiebungszielstaat“ an.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Divergenzrüge, Berufungszulassungsantrag, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Prüfungsmaßstab,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

5 Das Verwaltungsgericht ist jedoch auch in der Sache nicht von dem vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Prüfungsmaßstab abgewichen.

6 Das Bundesverwaltungsgericht hat in dem genannten Beschluss vom 8. August 2018 zu dem bei Art. 3 EMRK zu beachtenden Prüfungsmaßstab ausgeführt, dass der Abschiebung von im Ausland anerkannten Flüchtlingen in den Staat ihrer Anerkennung das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegensteht, wenn die sie dort erwartenden Lebensverhältnisse Art. 3 EMRK widersprechen. Das setzt allerdings voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht wird. Das kann der Fall sein, wenn die anerkannten Flüchtlinge ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (juris 1. Leitsatz und Rn. 11).

7 Diese Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts hat die Beklagte offensichtlich missverstanden, wenn sie meint, dass es hinsichtlich der Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK auf den "Eindruck von der individuellen Person des Klägers" ankomme. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit nicht auf die individuellen Besonderheiten des jeweiligen Klägers abgestellt, sondern darauf, ob "die anerkannten Flüchtlinge" unzumutbare Bedingungen im jeweiligen Abschiebungszielstaat vorfinden. Dementsprechend kommt es in den sogenannten Drittstaatenverfahren in der Regel auf "die von den individuellen Besonderheiten weitgehend unabhängige Beurteilung der Lage in dem bestimmten Abschiebungszielstaat" an (BVerwG, a.a.O., juris Rn. 12). Denn in der Regel gleichen diese Fälle sich in Bezug auf die Frage, ob anerkannte Flüchtlinge dort ihren existenziellen Lebensunterhalt sichern, Obdach finden und Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten können, was unter Würdigung aller Umstände in dem jeweiligen Land zu entscheiden ist. Insoweit kommt es daher in der Regel nicht auf die Besonderheiten in der Person des jeweiligen Klägers an. Allerdings können diese beispielsweise dann maßgeblich sein, wenn der Kläger vermögend ist und deshalb zur Sicherung seines Lebensunterhalts nicht darauf angewiesen ist, in dem betreffenden Land einen Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Sozialhilfeleistungen zu erhalten, oder über besondere berufliche Qualifikationen und Sprachkenntnisse verfügt, die ihm einen unmittelbaren Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen. Diesbezügliche Besonderheiten sind im vorliegenden Fall allerdings nicht ersichtlich und auch von der Beklagten nicht geltend gemacht worden. [...]