OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 10.05.2019 - 1 B 32/19 - asyl.net: M27277
https://www.asyl.net/rsdb/M27277
Leitsatz:

Keine Einwilligung in medizinische Alterseinschätzung durch nicht vertretungsberechtigte Jugendamtsmitarbeiterin:

"1. Veranlasst das Jugendamt nach der qualifizierten Inaugenscheinnahme von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung, kann es sich im gerichtlichen Verfahren nicht mehr darauf berufen, dass die Volljährigkeit des Betroffenen bereits aufgrund der qualifizierten Inaugenscheinnahme hinreichend sicher festgestellt werden könne.

2. Ein anderer Jugendamtsmitarbeiter als derjenige, auf den nach § 55 Abs. 2 SGB VIII die Ausübung der Aufgaben des Amtsvormunds übertragen wurde, kann für das Mündel jedenfalls dann keine wirksamen Willenserklärungen abgeben, wenn der Rechtsträger des Jugendamtes der Empfänger der Erklärung ist.

3. Die Vertretung des Jugendamtsmitarbeiters, auf den nach § 55 Abs. 2 SGB VIII die Ausübung der Aufgaben des Amtsvormunds übertragen wurde, durch andere Bedienstete des Jugendamtes muss amtsintern verbindlich geregelt sein."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Jugendamt, Inobhutnahme, Vormundschaft, Amtsvormund, gesetzlicher Vertreter, Altersfeststellung, Notvertretung, Einwilligung, Einwilligungserklärung, Vertretung, unbegleitete Minderjährige, ärztliche Untersuchung, medizinische Untersuchung, Gutachten, qualifizierte Inaugenscheinnahme,
Normen: SGB VIII § 55 Abs. 2, SGB VIII § 42f Abs. 1, SGB VIII § 42f Abs. 2, SGB VIII § 55 Abs. 3, BGB § 133, SGB VIII § 42a Abs. 3, BGB § 1793,
Auszüge:

[...]

2. Das Verwaltungsgericht geht auch zutreffend davon aus, dass die am . Dezember 2017 durchgeführte qualifizierte Inaugenscheinnahme die Zweifel an der Altersangabe des Antragstellers weder in die eine noch in die andere Richtung ausgeräumt hat und daher von der Antragsgegnerin eine ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII von Amts wegen zu veranlassen war (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 04.06.2018 – 1 B 82/18 – juris Rn. 17). Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Ergebnisse der qualifizierten Inaugenscheinnahme objektiv betrachtet möglicherweise die Feststellung hätten tragen können, dass der Antragsteller volljährig ist. Die jugendhilferechtliche Alterseinschätzung hat nach dem einschlägigen Fachrecht (§ 42f SGB VIII) nicht durch die Verwaltungsgerichte, sondern durch das Jugendamt zu erfolgen (OVG Bremen, Beschl. v. 26.07.2016 – 1 B 150/16 – juris Rn. 7). Dem Jugendamt genügten die Ergebnisse der qualifizierten Inaugenscheinnahme im vorliegenden Fall offenbar nicht, um zu einer eindeutigen Feststellung der Volljährigkeit zu gelangen. Zwar endet die "Niederschrift zu dem behördlichen Verfahren zur Altersfeststellung gemäß § 42f SGB VIII" vom 19./20.12.2017 (Bl. 28 – 35 d. Verwaltungsvorgangs) mit dem Ergebnis, "[aus] den vorstehend skizzierten Wahrnehmungen, Angaben und Verhaltensweisen wird geschlossen, dass Volljährigkeit vorliegt". Das Jugendamt hielt das Ergebnis der qualifizierten Inaugenscheinnahme aber offenbar dennoch nicht für ausreichend, um eine Inobhutnahme abzulehnen. Denn es forderte den Antragsteller mit Schreiben vom .12.2017 zunächst auf, sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen, erließ den Ablehnungsbescheid vom . Januar 2018 erst nach Vorliegen des medizinischen Gutachtens und stützte ihn maßgeblich auf dessen Ergebnis, setzte die Vollziehung des Bescheides aus, als sich das Gutachten als unverwertbar erwies, und entschied erst aufgrund eines zweiten altersdiagnostischen Gutachtens erneut. Vor diesem Hintergrund kann die Antragsgegnerin nicht damit durchdringen, wenn sie im Beschwerdeverfahren nun vorträgt, bereits die qualifizierte Inaugenscheinnahme sei "eindeutig" zu dem Ergebnis gelangt, dass der Antragsteller ein erwachsener Mann ist.

3. Die Zweifel am Alter des Antragstellers sind durch die beiden medizinischen Sachverständigengutachten nicht ausgeräumt, denn beide Gutachten sind nicht verwertbar.

a) Dass das Gutachten des UKE vom 2018 nicht verwertbar ist, weil es den Anforderungen der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 4.6.2018 – 1 B 82/18 – juris) nicht genügt, ist unstreitig.

b) Aber auch das Gutachten des Universitätsklinikums vom 2018 ist nicht verwertbar, weil es an einer wirksamen Einwilligung in die Untersuchung durch den gesetzlichen Vertreter des Antragstellers fehlt.

Gemäß § 42f Abs. 2 Satz 3 SGB VIII darf die Untersuchung nur mit Einwilligung der betroffenen Person und ihres Vertreters durchgeführt werden. Fehlt es daran, ist das Untersuchungsergebnis im Altersfeststellungsverfahren nicht verwertbar (OVG Bremen, Beschl. v. 4.6.2018 – 1 B 53/18 - juris Rn. 34 ff.).

aa) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die von der Mitarbeiterin des Jugendamtes (Fachdienst Amtsvormundschaft) Frau C. am 2018 abgegebene Einwilligungserklärung aber nicht schon deshalb unwirksam, weil sie ihrem Wortlaut nach "als Notvertretung gem. § 42a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII" abgegeben wurde und ein solches Notvertretungsrecht nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urt. v. 04.06.2018 – 1 B 53/18 – juris Rn. 33) hier nicht mehr bestand, weil das Amtsgericht Bremen bereits im Juni 2018 das Jugendamt zum Vormund bestellt hatte. [...]

bb) Jedoch war Frau C. nicht befugt, das gesetzliche Vertretungsrecht des Jugendamtes auszuüben.

Nach § 55 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII überträgt das Jugendamt die Ausübung der Aufgaben des Amtsvormunds einzelnen seiner Beamten oder Angestellten. In dem durch die Übertragung umschriebenen Rahmen ist der Beamte oder Angestellte gesetzlicher Vertreter des Jugendlichen (§ 55 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII). Das Jugendamt hatte die Ausübung der Aufgaben des Amtsvormunds des Antragstellers nicht auf Frau C. , sondern auf die ebenfalls im Fachdienst Amtsvormundschaft beschäftigte Frau A. übertragen.

Ob auch ein anderer als der nach § 55 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII mit der Ausübung der Aufgaben des Amtsvormunds betraute Bedienstete im Außenverhältnis wirksame Erklärungen für das Mündel abgegeben kann, ist in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt (vgl. BSG, Urteil vom 23. Juni 1960 – 4 RJ 70/58 –, juris, Rn. 15 und KG, Beschl. v. 26.02.1974 – 1 W 60/74 – FamRZ 1976, 371, die dies jeweils ausdrücklich offen lassen). Nach Auffassung des Senats ist dies jedenfalls dann zu verneinen, wenn – wie hier – (1) der Rechtsträger des Jugendamtes Erklärungsempfänger ist und (2) der die Erklärung abgebende Jugendamtsmitarbeiter sein Handeln nicht auf eine verbindliche amtsinterne Vertretungsregelung stützen kann.

Zwar wird der nach § 55 Abs. 2 SGB VIII benannte Bedienstete durch die Übertragung nicht zum Vormund. Vormund und damit auch gesetzlicher Vertreter bleibt das Jugendamt als Behörde (BGH, Beschl. v. 20.6.1966 – IV ZB 60/66 -, NJW 1966, 1808; Bay. LSG, Urt. v. 13.02.2007 – L 15 VG 1/06 – juris Rn. 24; Hess. VGH, Beschl. v. 22.11.2000 – 9 UZ 3294/00.A – juris Rn. 7; Veit, in: Staudinger, BGB (2014), § 1791b Rn. 19). Jedoch wäre es mit Sinn und Zweck des § 55 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 SGB VIII unvereinbar, wenn andere Bedienstete des Jugendamtes beliebig im Außenverhältnis wirksame Erklärungen für das Mündel abgeben könnten. § 55 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vermittelt dem Bediensteten, auf den die Ausübung der Vormundschaftsaufgaben übertragen wird, eine stärkere Stellung als die "normalerweise" durch die innerbehördliche Geschäftsverteilung begründete Sachbearbeitungszuständigkeit. Die Übertragung auf einen konkreten Bediensteten soll eine persönliche und individuelle Betreuung des Mündels gewährleisten (BGH, Urt. v. 17.06.1999 – III ZR 248/98 – juris Rn. 11). Daher sind die Aufgaben des Amtsvormundes von dem Bediensteten des Jugendamtes, dem sie übertragen wurden, grundsätzlich selbst wahrzunehmen (vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 28.04.2000 – 20 W 549/99 – juris Rn 4). Der Bedienstete ist bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben ausschließlich dem Interesse des Mündels verpflichtet und verfügt über einen eigenen Beurteilungsspielraum, in dessen Grenzen er Weisungen der Leitung des Jugendamtes nicht entgegenzunehmen braucht (BGH, Urteil vom 17. Juni 1999 – III ZR 248/98 –, juris Rn. 11). Dieser besonderen Verantwortung des nach § 55 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zuständigen Bediensteten würde es nicht gerecht, wenn auch jeder andere Mitarbeiter des Jugendamtes beliebig Willenserklärungen für das Mündel abgeben könnte. Insbesondere die Weisungsfreiheit könnte dann faktisch dadurch umgangen werden, dass ein anderer Mitarbeiter eine Erklärung abgibt, die abzugeben sich der nach § 55 Abs. 2 S. 1 SGB VIII zuständige Mitarbeiter geweigert hat.

Der Schutz des Erklärungsempfängers, für den möglicherweise nicht erkennbar ist auf welchen Bediensteten das Jugendamt die Ausübung der Vormundschaft intern übertragen hat, gebietet jedenfalls im vorliegenden Fall keine andere Betrachtung. Denn die Einwilligungserklärung wurde vorliegend nicht gegenüber einem Außenstehenden, sondern gegenüber dem ebenfalls zur Verwaltung der Antragsgegnerin gehörenden "Fachdienst Flüchtlinge, Integration & Familien – Erstversorgung unbegleiteter minderjähriger Ausländer*innen" des Amts für Soziale Dienste abgegeben. Die Gründe der Rechtssicherheit und -klarheit, aus denen die Rechtsprechung bei der Zustellung von Entscheidungen des BAMF oder der Gerichte für die Passivvertretung des Mündels nur auf das Jugendamt als Behörde und nicht auf den Bediensteten im Sinne des § 55 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII abstellt (vgl. VG Freiburg, Urt. v. 16.10.2018 A 5 K 7980/17 – juris Rn. 15; Hess. VGH, Beschl. v. 22.11.2000 – 9 UZ 3294/00.A – juris Rn. 6 f.; BSG, Urt. v. 23.6.1960 – 4 RJ 70/58 – juris Rn. 15; KG, Beschl. v. 26.02.1974 – 1 W 60/74 – FamRZ 1976, 371), sind daher in der vorliegenden Konstellation nicht tangiert. Ob diese ausdrücklich nur zur Passivvertretung ergangene Rechtsprechung überhaupt auf die Aktivvertretung übertragbar ist, kann dahinstehen.

Der nach § 55 Abs. 2 S. 1 SGB VIII zuständige Mitarbeiter kann im Verhinderungsfall (etwa bei Urlaub, Krankheit oder Dienstreise) durch eine andere Fachkraft des Jugendamtes vertreten werden. Denn zum Schutz der Interessen des Mündels muss das Jugendamt als Amtsvormund auch in diesen Fällen handlungsfähig sein. Solche Vertretungsfälle müssen jedoch amtsintern verbindlich geregelt werden, damit die besondere gesetzliche Stellung des nach § 55 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII mit der Ausübung der Vormundschaft betrauten Bediensteten geschützt bleibt. Es sei nicht zulässig, dass beliebige, von Fall zu Fall wechselnde Fachkräfte ihre Vertretung informell untereinander regeln (vgl. DIJuF-Rechtsgutachten vom 22.6.2016, Das Jugendamt 2016, 442 [443]; DIJuF-Rechtsgutachten vom 11.2.2013, Das Jugendamt 2013, 95 f.).

Vorliegend ist sowohl unklar, weshalb überhaupt ein Vertretungsfall vorlag, als auch, weshalb gerade Frau C. die Vertretung von Frau A. übernommen hat. [...]