VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 26.10.2018 - 6 K 673/16.A - asyl.net: M27274
https://www.asyl.net/rsdb/M27274
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung nach konkretem Rekrutierungsversuch in Eritrea:

1. Asylsuchenden, die nach einem konkretem Rekrutierungsversuch Eritrea illegal verlassen haben, drohen bei Rückkehr Verfolgungshandlungen, insbesondere physische Gewalt und die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung. Da sich die Betroffenen durch Flucht dem Nationaldienst entziehen, knüpfen diese Maßnahmen an den Verfolgungsgrund der unterstellten oppositionellen Überzeugung an.

2. Die bloße Einziehung zum Nationaldienst stellt für sich genommen keine flüchtlingsrelevante Verfolgung dar, da von ihr alle erwachsenen eritreischen Staatsangehörigen unterschiedslos betroffen sind.

(Leitsätze der Redaktion; ähnlich VG Cottbus, Urteil vom 12.4.2019 – 6 K 652/16.A - asyl.net: M27272)

Anmerkung:

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, illegale Ausreise, Upgrade-Klage, Politmalus, Militärdienst, Nationaler Dienst, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, Rekrutierung,
Normen: AsylG § 3b, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3c, AsylG § 3b Abs. 2,
Auszüge:

[...]

21 Unter Beachtung dieser Maßstäbe hat der Kläger Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Gericht ist aufgrund seines Vorbringens unter Berücksichtigung der herangezogenen Erkenntnisquellen der Überzeugung, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Eritrea einer Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt wäre.

22 Zwar stellt die bloße, wenn auch zwangsweise Einziehung zum Nationaldienst für sich genommen trotz der dabei herrschenden Bedingungen keine flüchtlingsrelevante Verfolgung dar, da von ihr praktisch alle erwachsenen eritreischen Staatsbürger gleichermaßen betroffen sind (vgl. Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 1. September 2017 – 28 K 166.17.A -, juris Rn. 25; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 21. November 2016, Ziff. II.1.6.; EASO-Bericht Länderfokus Eritrea, Mai 2015, Ziff. 3.).

23 Der Kläger hat jedoch nachvollziehbar und glaubhaft vorgetragen, sich einer konkreten Rekrutierungsmaßnahme eritreischer Sicherheitsleute durch Flucht entzogen und wenig später illegal das Land verlassen zu haben. [...]

25 Dem Kläger drohen nach Überzeugung der Kammer im Hinblick darauf, dass er sich der an ihn gestellten Aufforderung, die Waffe zu tragen und für militärische Dienste zur Verfügung zu stehen, unmittelbar und bewusst entzogen und illegal das Land verlassen hat, im Falle seiner Rückkehr nach Eritrea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG – insbesondere die Anwendung physischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) und die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (§ 3 a Abs. 2 Nr. 4 AsylG) - (hierzu unter 1.), die an Verfolgungsgründe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3 b AsylG anknüpfen (hierzu unter 2.).

26 1.) Dem Kläger droht im Fall seiner Rückkehr eine Inhaftierung durch den eritreischen Staat, da er sich einer behördlichen Aufforderung zur Ableistung des Wehrdienstes widersetzt und damit der allgemeinen Dienstpflicht entzogen sowie illegal das Land verlassen hat. [...]

40 2. Die dem Kläger nach alledem drohende Verfolgung knüpft nach Überzeugung der Kammer auch an einen Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b AsylG an, und zwar an seine politische Überzeugung. [...]

45 Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist hier nach Überzeugung der Kammer anhand der Erkenntnislage in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung davon auszugehen, dass die dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Eritrea mit überwiegender Wahrscheinlichkeit drohende Bestrafung wegen Wehrpflichtentziehung und illegaler Ausreise an seine (vermutete) politische Überzeugung als Verfolgungsgrund im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpft. Denn aus den eingeführten Erkenntnissen ergeben sich unter würdigender Gesamtbetrachtung überwiegende Anhaltspunkte dafür, dass der eritreische Staat im Falle einer Desertion oder Wehrdienstentziehung und einer damit begründeten Flucht aus Eritrea eine politische Gegnerschaft unterstellt, an die die drohende Bestrafung maßgeblich anknüpft (vgl. ebenso Verwaltungsgericht Schwerin, Urteil vom 29. Februar 2016 – 15 A 3628/15 As SN -, juris Rn. 50 ff., und Urteil vom 20. Januar 2017 – 15 A 3003/16 As SN -, juris Rn. 49 ff.; Verwaltungsgericht Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Oktober 2016 – 4 A 1646/16 -, juris Rn. 36; Verwaltungsgericht Aachen, Urteil vom 16. Dezember 2016 – 7 K 2273/16.A -, juris Rn. 46; Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 13. November 2014 – 10 K 2815/13.A -, juris Rn. 50; Verwaltungsgericht Frankfurt, Urteil vom 12. August 2013 – 8 K 2202/13.F.A -, juris Rn. 15; grundsätzlich wohl auch Verwaltungsgericht Hannover, Urteil vom 25. Oktober 2017 – 3 A 5931/16 -, juris Rn. 74). [...]

53 [...] Soweit die Beklagte der Auffassung ist, dass die Umstände der nationalen Wehrdienstverpflichtung inzwischen zu einer Massenflucht eritreischer Staatsangehöriger geführt hätten und deshalb bei lebensnaher Betrachtung nicht davon ausgegangen werden könne, dass das eritreische Regime sämtlichen Deserteuren eine regimefeindliche Haltung unterstelle, zumal das Motiv der Flucht in erster Linie die prekären und unfreien Lebensbedingungen im zeitlich unbefristeten Nationaldienst seien, woraus folge, dass der eritreische Staat die politische Überzeugung seiner Bürger im Falle der Bestrafung der Desertion gänzlich unbeachtet lasse, verkennt sie nach Auffassung der Kammer das Wesen und die Charakteristik totalitärer Herrschaftsstrukturen, zu deren Merkmalen es gerade gehört, die Bevölkerung nicht lediglich einem Regime zu unterwerfen, sondern sie auf die Ideologie des Systems einzuschwören und zu verpflichten, so dass jede Verweigerung, jede abweichende Haltung oder Handlung als Verrat gewertet wird. Dies betrifft bei einem totalitären Militärregime, wie es in Eritrea herrscht, insbesondere auch den Wehrdienst und die dabei herrschenden Bedingungen, deren Bewertung als "prekär und unfrei" (sic!) bereits als regimefeindlich gilt. [...]

55 Im Fall des Klägers ist zudem davon auszugehen, dass der Umstand, dass er bereits zuvor während des militärischen Teils seiner Ausbildung in Sawa der versuchten Flucht verdächtigt und hierfür schwer und unter Anwendung von Folter bestraft worden ist, von den eritreischen Behörden erschwerend im Sinne einer Wiederholungstat gewertet würde. Gleichzeitig stützen die in diesem Zusammenhang von dem Kläger geschilderten erheblichen Misshandlungen und menschenrechtswidrigen Bedingungen während der Haft, die öffentliche Entwürdigung und Brandmarkung als Verräter die Einschätzung einer besonderen, das Maß des Umganges mit "gewöhnlichen" Straftätern übersteigenden und also politisch motivierten Verfolgung. [...]