1. Die Titelerteilungssperre gem. § 10 Abs. 3 AufenthG steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen wegen der entgegenstehenden Wertungen von Art. 6 GG/Art. 8 EMRK nicht zeitlich unbegrenzt entgegen.
2. Sofern die Behördenentscheidung, welche die Sperre ausgelöst hat, bereits mehrere Jahre zurückliegt und eine Abschiebung nicht absehbar bevorsteht, kann die Titelerteilungssperre der betroffenen Person nicht mehr entgegengehalten werden.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
a) Der Kläger unterfällt nicht dem Anwendungsbereich des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bzw. Satz 4 AufenthG, da er nicht rechtlicher Vater und damit im Rechtssinn nicht "Elternteil" in Bezug auf das deutsche Kind ... ist.
b) Der Kläger ist als leiblicher Vater des Geschwisterkindes ... durch die nach seinem Vortrag gelebte und durch das Jugendamt bestätigte sozial-familiäre Beziehung zu dem deutschen Kinde M. Teil von dessen Familie i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG. Er ist damit sonstiger Familienangehöriger eines Deutschen, dem gemäß § 28 Abs. 4 i.V.m. §§ 36 Abs. 2, 27 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft zum Schutz der Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG zum Familiennachzug erteilt werden kann, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.
Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (so BVerfG, Beschl. v. 20.6.2016 - 2 BvR 748/13 - juris Rn. 13). Der Nachzug sonstiger Familienangehöriger ist insoweit auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden. Die spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe in Deutschland als Voraussetzung für den Nachzug sonstiger Familienangehöriger stellt eine höhere Hürde dar als die in den §§ 28 bis 30, 32, 33 und 36 Abs. 1 AufenthG geregelten Voraussetzungen für den Nachzug von Kindern, Eltern oder Ehegatten, weil sie eine gesonderte Begründung dafür verlangt, dass die Herstellung der Familieneinheit außerhalb der Bundesrepublik Deutschland unzumutbar wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.7.2013 -1 C 15.12 -, juris Rn. 11 ff.).
Dass das deutsche Kind M. zu seinem Wohl auf die Anwesenheit des Klägers angewiesen ist, ist nach den Berichten des Jugendamtes anzunehmen. Insoweit ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Vater-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Soweit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschl. v. 8.12.2005 - 2 BvR 1001/04 -, juris Rn. 26) in Bezug auf den Kontakt zwischen Kindern und einem getrennt lebendem Elternteil davon auszugehen ist, dass der persönliche Kontakt des Kindes zum getrennt lebenden Elternteil und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen und das Kind beide Eltern braucht, kann dies grundsätzlich in gleichem Maße nicht in Bezug zum Stiefvater angenommen werden. Dies ist vielmehr im Einzelfall zu klären. Vorliegend besteht vor dem Hintergrund sowohl des Vortrages des Klägers als auch der Feststellungen des Jugendamtes der Beklagten kein Raum für Zweifel daran, dass der Kläger, obwohl er erst seit etwa zwei Jahren mit dem Kind M. in einem Haushalt lebt, in vollem Umfang die Vaterrolle für diesen ausübt und die Anwesenheit des Klägers in der Bundesrepublik aus diesem Grunde (auch) dem Wohl des Kindes M. dient. Der Kläger hat zu M. eine gute emotionale Beziehung aufgebaut und kümmert sich im Familienalltag wie ein Vater um diesen. Er holt ihn etwa von der Schule ab, begleitet ihn zu Arztbesuchen, bereitet das Essen. Bezeichnend ist, dass M. den Kläger auch selbst "Papa" nennt, mag er sich auch des Umstandes bewusst sein, dass der Kläger nicht sein leiblicher Vater ist. Von nochmals hervorgehobener Bedeutung ist die Anwesenheit des Klägers für M. auch deshalb, weil der Kläger für das Kind offenbar einen nicht unerheblich größeren Betreuungs- und Erziehungsaufwand betreibt als die leibliche Mutter. Unter Berücksichtigung insbesondere der Stellungnahmen des Jugendamtes der Beklagten ist davon auszugehen, dass diese mit der alleinigen Erziehung und Betreuung des Kindes M. überfordert wäre. Hinzu kommt, dass die leibliche Mutter, wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung geschildert und die leibliche Mutter selbst bestätigt hat, in deutscher Sprache nicht und auch in französischer Sprache so gut wie nicht lesen und schreiben zu können. Ferner wurde in der mündlichen Verhandlung deutlich, dass die leibliche Mutter sich auch mündlich in deutscher Sprache kaum verständlich machen konnte, während dies dem Kläger kaum Schwierigkeiten bereitete.
Aus der deutschen Staatsangehörigkeit eines Kindes ergibt sich bei "Patchwork-Familien" allerdings nicht automatisch, dass dem deutschen Kind eine Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft im Ausland ohne Hinzutreten besonderer Umstände stets unzumutbar wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.7.2013 - 1 C 15.12 - a.a.O.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 36 AufenthG Rn. 26). Vielmehr müssen die Folgen der Versagung der Aufenthaltserlaubnis im Vergleich zu den Fällen der Ehegatten und minderjährigen ledigen Kinder so ungewöhnlich sein, dass die Versagung nicht vertretbar erscheint. Das hängt davon ab, welche Folgen eine Fortführung der Familiengemeinschaft mit den Eltern hätte, ob und ggfs. welche Alternativen denkbar wären und wie sich ein derartiger Aufenthalt im Ausland ggfs. auf die - rechtlich gesicherte - Möglichkeit einer späteren Rückkehr und Reintegration auswirken würde (vgl. hierzu: BVerwG, Urt. v. 30.7.2013 - 1 C 15.12 -, juris Rn. 12 ff.). Dies ist vorliegend in Betracht zu ziehen, da der Kläger ebenso wie die Mutter von M. senegalesischer Staatsangehöriger ist und der leibliche Vater von M. und seine Halbschwester F. im Senegal leben.
Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juni 2016 (2 BvR 7 48/13 -, juris Rn. 13) und die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juli 2013 (1 C 15.12 -, juris Rn. 17) ist davon auszugehen, dass die Fortführung der Lebensgemeinschaft für das Kind ... im Senegal unzumutbar ist. Anknüpfungspunkte für diese Feststellung bieten die Stellungnahmen des Allgemeinen Sozialdienstes vom 18. Juni und 27. Juli 2018; danach würde das Aufwachsen im Senegal die spätere (Re-)Integration in Deutschland und die Teilhabe an der deutschen Gesellschaft erschweren. Aus fachlicher Sicht sei das Aufwachsen im Ausland nicht mit dem Aufwachsen im Herkunftsland zu vergleichen. Die kulturelle und gesellschaftliche Prägung könne nicht im gleichen Maße im Ausland erfolgen. Auch sei das Erlernen der Muttersprache des Kindesvaters im Ausland nicht mit dem Erlernen der Sprache im eigenen Land zu vergleichen. Dies würde die Integration bei einer späteren Rückkehr in die Bundesrepublik erschweren, aber nicht unmöglich machen. Ferner wäre für das Kind der Verlust einer männlichen Bezugsperson - nämlich des Klägers - schwierig und emotional belastend. Ein solcher Verlust kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, wenn M. wieder Kontakt zu seinem leiblichen Vater im Senegal aufnehmen würde, der nach Recherchen der Beklagten ein Umgangs- oder gar ein geteiltes Sorgerecht haben soll. Nach derzeitigen Erkenntnissen gestaltet sich das Verhältnis des Kindesvaters zur Mutter sehr schwierig; ein reibungsloser Umgang und ein Fortbestehen der bisherigen harmonischen Familieneinheit sowohl mit der leiblichen Mutter als auch mit dem Kläger als Stiefvater dürften im Senegal daher schwierig sein. Im Falle des Verlustes einer bisherigen Bezugsperson - des Klägers als Ersatz des leiblichen Vaters, der ihn im Senegal verdrängen könnte - wäre aber davon auszugehen, dass das Kind M. einen seelischen Schaden erleidet.
Im Übrigen liegt es nahe, dass M. der Verlust der jetzt in der Grundschule erlernten Kenntnisse und Fähigkeiten ebenso wie der Verlust seiner sozialen Kontakte zu gleichaltrigen Klassenkameraden und Freunden droht, sofern er in den Senegal ausreist. Welche Erziehungsleistungen von dem dort aufhältigen leiblichen Vater tatsächlich zu erwarten sind, kann nicht sicher festgestellt werden; Unterhalt zahlt dieser nach den Feststellungen des Jugendamtes jedenfalls nicht. Der Umstand, dass M. in der Vergangenheit mit seiner ebenfalls noch im Senegal befindlichen Halbschwester F. gespielt hat und diese mit positiven Erinnerungen verbindet, vermag den vollständigen Verlust der sozialen Kontakte zu gleichaltrigen Kindern in Deutschland nicht aufzufangen. Bei einer Gesamtschau der sozialen und wirtschaftlichen Folgen hält die Kammer die Fortführung der bestehenden familiären Gemeinschaft im Senegal daher für M. nicht zumutbar.
Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehen auch keine anderen rechtlichen Hindernisse entgegen. Zutreffend geht die Beklagte in ihrem angefochtenen Bescheid davon aus, dass der Kläger nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist ist (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Da ihm kein (gebundener) Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zusteht, kann von dem Visumsverfahren gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nur abgesehen werden, wenn ihm dessen Durchführung aufgrund der Umstände des Einzelfalles nicht zumutbar ist. Dies ist derzeit angesichts der familiären Einbindung des Klägers und des Alters seiner Kinder der Fall.
Zwar darf einem Ausländer, dessen Asylantrag unanfechtbar wurde, nach § 10 Abs. 3 AufenthG vor seiner Ausreise lediglich ein humanitärer Titel erteilt werden, soweit kein gesetzlicher Anspruch besteht. Auch diese Regelung ist jedoch im Licht von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK (vgl. dazu BVerfG, a.a.O.) auszulegen; dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das Asylverfahren des Klägers bereits seit 2014 bestandskräftig abgeschlossen ist und er seitdem einerseits befristete Duldungen erhält, andererseits aber Abschiebungsversuche zu keiner Zeit unternommen wurden und wohl auch künftig nicht geplant sind. Bei der Anwendung dieser Regelung ist daher unter Berücksichtigung des Verhaltens der Ausländerbehörde von einer zeitlichen Grenze auszugehen (vgl. VG Dresden, Beschl. v. 12.8.2014 - 3 L 541/14 - juris Rn. 16). Angesichts der bereits oben festgestellten drohenden außergewöhnlichen Härte hält die Kammer daher im Hinblick zur Abwendung eines schweren Eingriffs in die durch Art. 6 GG geschützte Familie eine Abweichung von der Titelerteilungssperre geboten. [...]