OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2019 - 4 L 201/17 - asyl.net: M27161
https://www.asyl.net/rsdb/M27161
Leitsatz:

Keine Ablehnung als unzulässig bei Anspruch auf Familienasyl:

Bestehen Anhaltspunkte, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Familienasyl vorliegen, darf der Asylantrag nicht wegen einer bereits erfolgten Schutzzuerkennung in einem anderen Mitgliedstaat der EU als unzulässig abgelehnt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienasyl, Familienflüchtlingsschutz, internationaler Schutz in EU-Staat, Unzulässigkeit,
Normen: AsylG § 26, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

17 1. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als Grundlage für die Ablehnung des Antrages des Klägers auf Gewährung von Asyl ist wegen des bestehenden Anspruchs des Klägers aus § 26 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AsylG nicht anwendbar (vgl. auch VG Düsseldorf, Beschl. v. 12. April 2017 - 22 L 1361/17.A -; VG Lüneburg, Urt. v. 15. März 2017 - 8 A 201/16 -, jeweils zit. nach JURIS; offen gelassen von VG Potsdam, Beschl. v. 13. Juli 2017 - VG  L 127/17.A -, zit. nach JURIS; a.M.: VG Berlin, Urt. v. 3. Dezember 2018 - 23 K 323.18 A -; VG Hannover, Urt. v. 22. März 2018 - 13 A 12144/17 -; VG Ansbach, Urt. v. 29. Juni 2017 - AN 6 K 16.01738 -, jeweils zit. nach JURIS). [...]

26 Letztlich gebieten nach Ansicht des Senats Sinn und Zweck der einschlägigen Bestimmungen des AsylG die hier vorgenommene Auslegung.

27 § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG soll das Bundesamt davon entbinden, den Anspruch eines Ausländers auf Gewährung internationalen Schutzes zu prüfen, wenn bereits ein anderer Mitgliedstaat diese Prüfung mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen hat (vgl. auch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der RL 2013/31/EU). Damit werden für eine Schutzgewährung eigentlich unnötige Doppelprüfungen der Mitgliedstaaten verhindert, mit denen zudem die Gefahr divergierender Entscheidung verbunden wäre.

28 Durch § 26 AsylG erfolgt eine automatische Erstreckung des Status des Stammberechtigten auf bestimmte Familienangehörige. Der Zweck der Institution des (ursprünglichen) Familienasyls wurde darin gesehen, das Bundesamt und Gerichte zu entlasten, indem eine u.U. schwierige Prüfung eigener Verfolgungsgründe der nahen Angehörigen eines Verfolgten erübrigt wird, und außerdem deren Integration zu fördern (so Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. A., § 16 Rdnr. 2, 3 unter Hinweis auf den Bericht des Innenausschusses des Bundestages in BT-Drs 11/6960, Seite 29f.; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 21. Januar 1992 - 9 C 66.91 -, zit. nach JURIS zu § 7a Abs. 3 AsylVfG: Beschleunigungs- und Vereinfachungseffekt; vgl. weiter BVerwG, Urt. v. 9. Mai 2006 - 1 C 8.05 -, zit. nach JURIS). Die Neufassung der Vorschrift durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 diente der Umsetzung von Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie. Danach tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist. Nach Art. 23 Abs. 1 der RL 2011/95/EU tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Die Richtlinienvorschrift sieht vor, dass Familienangehörige eines international Schutzberechtigten Anspruch auf die gleichen Rechte haben wie der Schutzberechtigte selbst (Stammberechtigte), wenn sie sich in Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz im Mitgliedstaat aufhalten.“ (BT-Drs. 17/13063, Seite 21). Danach soll § 26 AsylG eine rasche und einheitliche Entscheidung herbeiführen, Verwaltungsaufwand vermeiden, um Behörden und Verwaltungsgericht zu entlasten, sowie dem in Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK enthaltenen und dem internationalen Flüchtlingsschutz immanenten Gedanken der Familieneinheit Rechnung tragen (vgl. Marx, a.a.O., § 26 Rdnr. 3, 40).

29 Wenn aber § 26 AsylG (zumindest auch) den Zweck hat, den Familienverband zu schützen und integrationsverstärkend zu wirken (vgl. auch umfassend GK-AsylG, § 26 Rdnr. 12ff.), kommt dem für § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG maßgeblichen Umstand, dass dem Ausländer schon internationaler Schutz in einem anderen Mitgliedstaat gewährt worden ist, demgegenüber ein minderes Gewicht zu. Vielmehr ist § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dahingehend auszulegen, dass der Ausschluss einer Sachprüfung nur soweit reicht, wie der Asylanspruch bereits Gegenstand des Asylverfahrens im anderen Mitgliedstaat gewesen ist. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erfasst darum nur den eigenen Anspruch des Ausländers auf Gewährung internationalen Schutzes und nicht einen abgeleiteten Anspruch auf Familienasyl gem. § 26 AsylG. Es wird zu Recht darauf hingewiesen (vgl. VG Lüneburg, Urt. v. 15. März 2017, a.a.O.), dass anderenfalls ein Ausländer, der auf Grund eigener Verfolgung in seinem Herkunftsstaat in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten hat, möglicherweise schlechter als ein selbst nicht verfolgter Ausländer steht, dessen Antrag in einem anderen Mitgliedstaat abgelehnt worden ist. Ein solcher Wertungswiderspruch ist zu vermeiden. [...]