Zur Ablehnung als "unzulässig" bei subsidiärer Schutzberechtigung in anderem EU-Staat:
1. Die in Art. 33 Abs. 2 Bst. a VerfRL vorgesehene Ablehnung als unzulässig wegen Schutzgewährung in einem anderen EU-Staat ist auch auf Asylanträge anwendbar, die vor dem in der Übergangsregelung nach Art. 52 Abs. 1 VerfRL genannten Stichtag 20.7.2015 gestellt wurden. Dies gilt, obwohl die alte Fassung der Verfahrensrichtlinie 2005/85/EG im Gegensatz zur Neufassung der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU (und der Neuregelung des § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) die Ablehnung als unzulässig bei Gewährung subsidiären Schutzes nicht vorsah. Nur Asylanträge von in anderen Mitgliedstaaten subsidiär Geschützten, die noch vollständig in den Geltungsbereich der alten Dublin-II-Verordnung 343/2003 fallen, dürfen nicht nach den neuen Vorschriften als unzulässig abgelehnt werden.
2. Ein Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer Person, der in einem anderen EU-Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt wurde (sogenannte Aufstockung), kann als unzulässig abgelehnt werden, wenn ihr dort keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GR-Charta droht. Dieses Risiko besteht nur dann, wenn die betroffene Person sich aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem eigenen Willen in extremer materieller Not befindet. Dies gilt auch dann, wenn sie wie Staatsangehörige des schutzgewährenden Staats keine oder kaum existenzsichernde Leistungen erhält.
3. Auch wenn subsidiär Schutzberechtigten aufgrund von Mängeln im Asylverfahren des schutzgewährenden Staats systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert wird, kann ihr Aufstockungsantrag im Aufenthaltsstaat verweigert werden.
(Leitsätze der Redaktion; Entscheidung erging auf Vorlage des BVerwG, Beschluss vom 23.03.2017 - 1 C 17.16; 1 C 18.16; 1 C 20.16 - asyl.net: M25082, Asylmagazin 7-8/2017)
Anmerkung:
[...]
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage in den Rechtssachen C-297/17, C-318/17 und C-319/17 und zu den Fragen in der Rechtssache C-438/17 [...]
64 Folglich geht ungeachtet des Spannungsverhältnisses zwischen den Sätzen 1 und 2 von Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie aus diesen Vorarbeiten hervor, dass der Unionsgesetzgeber es den Mitgliedstaaten, die dies wünschten, gestatten wollte, ihre zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften mit sofortiger Wirkung auf vor dem 20. Juli 2015 gestellte Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden (Urteil vom 25. Juli 2018, Alheto, C-585/16, EU:C:2018:584, Rn. 72).
65 Des Weiteren enthalten diese Vorarbeiten keine Anhaltspunkte dafür, dass der Unionsgesetzgeber diese Befugnis, die Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie den Mitgliedstaaten eröffnet, allein auf die Vorschriften beschränken wollte, die für Personen, die internationalen Schutz beantragen, günstiger sind als die zuvor zur Umsetzung der Richtlinie 2005/85 erlassenen Vorschriften. [...]
69 Wie sich zweitens aus den Ausführungen in den Rn. 64 und 65 des vorliegenden Urteils ergibt, verbietet Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie nicht, dass eine nationale Bestimmung zur Umsetzung des in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen zusätzlichen Unzulässigkeitsgrundes nach nationalem Recht in zeitlicher Hinsicht auf Asylanträge angewandt werden kann, die vor dem 20. Juli 2015 und vor dem Inkrafttreten dieser Übergangsbestimmung gestellt, aber noch nicht bestandskräftig beschieden worden sind.
70 Drittens verbietet Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie zwar ebenso wenig grundsätzlich eine unmittelbare Anwendung der Bestimmungen dieser Richtlinie auf vor ihrem Inkrafttreten gestellte Anträge, doch ist festzustellen, dass die unmittelbare Anwendung des in ihrem Art. 33 Abs. 2 Buchst. a vorgesehenen zusätzlichen Unzulässigkeitsgrundes in einer Situation wie der in der Rechtssache C-438/17 in Rede stehenden an ihre Grenzen stößt, in der sowohl der in Deutschland gestellte Asylantrag als auch das Wiederaufnahmegesuch vor dem 1. Januar 2014 gestellt worden sind, so dass der Asylantrag nach Art. 49 der Dublin-III-Verordnung noch vollständig in den Geltungsbereich der Dublin-II-Verordnung fällt. [...]
73 Somit ergibt sich aus der Systematik der Dublin-III-Verordnung und der der Verfahrensrichtlinie sowie aus dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie, dass der in deren Art. 33 Abs. 2 Buchst. a vorgesehene zusätzliche Unzulässigkeitsgrund nicht dazu bestimmt ist, auf einen Asylantrag angewandt zu werden, der noch vollständig in den Geltungsbereich der Dublin-II-Verordnung fällt.
74 Nach alledem ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C-297/17, C-318/17 und C-319/17 und auf die Fragen in der Rechtssache C-438/17 zu antworten, dass Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat gestattet, eine unmittelbare Anwendung der nationalen Bestimmung zur Umsetzung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie auf noch nicht bestandskräftig beschiedene Asylanträge vorzusehen, die vor dem 20. Juli 2015 und vor dem Inkrafttreten der nationalen Bestimmung gestellt worden sind. Dagegen verbietet Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie insbesondere in Verbindung mit deren Art. 33 diese unmittelbare Anwendung in einer Situation, in der sowohl der Asylantrag als auch das Wiederaufnahmegesuch vor dem Inkrafttreten der Verfahrensrichtlinie gestellt worden sind und nach Art. 49 der Dublin-III-Verordnung noch vollständig in den Geltungsbereich der Dublin-II-Verordnung fallen.
Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C-297/17, C-318/17 und C-319/17 [...]
77 Aus dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie, insbesondere aus der Wendung „[z]usätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der [Dublin-III-]Verordnung … ein Antrag nicht geprüft wird“, sowie aus dem mit dieser Bestimmung verfolgten Ziel der Verfahrensökonomie geht hervor, dass sie es in den in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie genannten Situationen den Mitgliedstaaten gestattet, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, ohne dass sie vorrangig auf die von der Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren zurückgreifen müssen.
78 Darüber hinaus kann ein Mitgliedstaat bei Anträgen auf internationalen Schutz wie den in den Rechtssachen C-297/17, C-318/17 und C-319/17 in Rede stehenden, die zum Teil unter die Dublin-III-Verordnung fallen, einen anderen Mitgliedstaat nicht im Rahmen der durch diese Verordnung festgelegten Verfahren wirksam darum ersuchen, einen Angehörigen eines Drittstaats aufzunehmen oder wieder aufzunehmen, der im ersten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem ihm im zweiten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist.
79 Für diese Situation hat der Unionsgesetzgeber nämlich die Auffassung vertreten, dass die Ablehnung eines solchen Antrags auf internationalen Schutz durch eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie und nicht durch eine Überstellungsentscheidung ohne Prüfung gemäß Art. 26 der Dublin-III-Verordnung sicherzustellen sei (vgl. Beschluss vom 5. April 2017, Ahmed, C-36/17, EU:C:2017:273, Rn. 39 und 41).
80 Daher ist auf die zweite Frage in den Rechtssachen C-297/17, C-318/17 und C-319/17 zu antworten, dass in einer Situation wie der in diesen Rechtssachen in Rede stehenden Art. 33 der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es den Mitgliedstaaten gestattet, einen Asylantrag nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie als unzulässig abzulehnen, ohne dass sie vorrangig auf das von der Dublin-III-Verordnung vorgesehene Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren zurückgreifen müssen oder dürfen.
Zu den Fragen 3 und 4 in den Rechtssachen C-297/17, C-318/17 und C-319/17 [...]
92 Im Hinblick auf die insoweit vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen ist festzustellen, dass unter Berücksichtigung der Bedeutung, die der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat, Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie, die nicht zu einer Verletzung von Art. 4 der Charta führen, die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, ihre durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie eingeräumte Befugnis auszuüben.
93 Der vom vorlegenden Gericht ebenfalls genannte Umstand, dass subsidiär Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die den in den Rn. 89 bis 91 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien entspricht. [...]
99 Sollte das Asylverfahren in einem Mitgliedstaat dazu führen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen und die Voraussetzungen der Kapitel II und III der Anerkennungsrichtlinie erfüllen, systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert wird, so könnte die Behandlung der Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat nicht als mit den Pflichten nach Art. 18 der Charta im Einklang stehend angesehen werden.
100 Nichtsdestotrotz können die übrigen Mitgliedstaaten den neuen Antrag, den der Betroffene bei ihnen gestellt hat, nach dem im Licht des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens auszulegenden Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie als unzulässig ablehnen. In einem solchen Fall hat der subsidiären Schutz gewährende Mitgliedstaat das Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wieder aufzunehmen. [...]