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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 30.01.2019 - 20 K 538.17 V - asyl.net: M27126
https://www.asyl.net/rsdb/M27126
Leitsatz:

Eltern- aber kein Geschwisternachzug zu inzwischen volljährigem anerkannten Flüchtling:

1. Nachzugsanspruch der Eltern, jedoch nicht der minderjährigen Geschwister zu einem während des Nachzugsverfahrens volljährig gewordenen anerkannten Flüchtling aus Syrien.

2. Die Entscheidung des EuGH vom 12.04.2018 (C-550/16 A. und S. gg. Niederlande - asyl.net: M26143), wonach eine als Flüchtling anerkannte Person auch nach Eintritt der Volljährigkeit ihr Recht auf Familiennachzug behält, ist für alle Mitgliedstaaten verbindlich und daher auch in Deutschland anwendbar.

3. Es ist unerheblich, ob die Volljährigkeit bereits im Asylverfahren oder erst im anschließenden Visumsverfahren zum Familiennachzug eingetreten ist. Der EuGH gibt vor, dass es für Betroffene beim Familiennachzug nicht von Nachteil sein darf, wenn sie während des Asylverfahrens volljährig geworden sind. Dies muss erst recht gelten, wenn die Volljährigkeit erst später im Nachzugsverfahren eintritt.

4. Eine zeitliche Begrenzung für die Beantragung des Familiennachzugs ist in Fällen, in denen die Volljährigkeit erst nach Abschluss des Asylverfahrens eintritt und der Nachzugsantrag bereits bei Minderjährigkeit gestellt wurde nicht erforderlich.

5. Den minderjährigen Geschwistern kann kein Visum zur gemeinsamen Einreise mit den Eltern gewährt werden, da die Voraussetzung der Lebensunterhaltssicherung für den Kindernachzug nicht erfüllt ist. Ein Ausnahmefall, in dem hiervon abgesehen werden kann, liegt nicht vor. Die Eltern können mit den minderjährigen Kindern weiter in Syrien leben. Ihr in Deutschland lebender Sohn ist volljährig und nicht auf sie angewiesen.

6. Für den Nachzug der Geschwister steht auch nicht ausreichend Wohnraum zur Verfügung. Ausnahmen von diesem Erfordernis sind, über die Privilegierung von Eheleuten und Kindern von Schutzberechtigten nach § 29 Abs. 2 AufenthG, auch aus Härtefallgründen nicht vorgesehen. Ein Absehen von dem Erfordernis ist auch weder aus menschenrechtlichen Gründen noch wegen der EuGH-Entscheidung geboten.

(Leitsätze der Redaktion; laut Medienberichten hat das Auswärtige Amt Sprungrevision eingelegt, daher ist eine Entscheidung des BVerwG zu erwarten; siehe auch VG Berlin, Urteil vom 01.02.2019 - 15 K 936.17 V - asyl.net: M27094)

Anmerkung:

  • Siehe asyl.net Meldung vom 22.3.2019
  • Siehe Anmerkung von Johanna Mantel in Asylmagazin 4/2019
Schlagwörter: Familiennachzug, Elternnachzug, Geschwisternachzug, Wohnraumerfordernis, Volljährigkeit, unbegleitete Minderjährige, Familienzusammenführung, Beurteilungszeitpunkt, minderjährig, Familienzusammenführungsrichtlinie, Asylverfahren, Frist, Asylantrag, Flüchtlingsanerkennung, A. und S., A und S,
Normen: AufenthG § 6 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 36 Abs. 1, RL 2003/86/EG Art. 10 Abs. 3 Bst. a, AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2003/86/EG Art. 2 Bst. f, RL 2003/86/EG Art. 15 Abs. 2, RL 2003/86/EG Art. 13 Abs. 1, RL 2003/86/EG Art. 13 Abs. 2 S. 1, RL 2003/86/EG Art. 13 Abs. 2 S. 2, RL 2003/86/EG Art. 13 Abs. 3, AufenthG § 27 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 27 Abs. 4 S. 3, RL 2003/86/EG Art. 10 Abs. 3 Bst. a, AufenthG § 2 Abs. 4, AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 22 S. 1, AufenthG § 22, AufenthG § 32, AufenthG § 32 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

17 Die Voraussetzungen nach § 36 Abs. 1 AufenthG liegen vor. Die Kläger zu 1. und 2. sind die Eltern des syrischen Klägers zu 5., der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG besitzt. Folglich befindet sich auch kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet.

18 Der Kläger zu 5. ist bei der gebotenen unionskonformen Auslegung auch minderjährig im Sinne dieser Bestimmung. Seine inzwischen eingetretene Volljährigkeit steht dem Nachzugsanspruch der Kläger zu 1. und 2. nicht entgegen.

19 Insoweit folgt die Kammer nicht mehr der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 18. April 2013 – BVerwG 10 C 9/12 –, juris; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 2017 – 2 BvR 1758/17 –, juris Rn. 16), wonach mit Blick auf die für das Verpflichtungsbegehren grundsätzlich maßgebliche Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Nachzugsanspruch der Eltern zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nur bis Erreichen der Volljährigkeit des Kindes besteht und sich im Anschluss nicht in ein eigenständiges Aufenthaltsrecht wandelt. Diese Rechtsprechung ist nach Auffassung der Kammer nach dem Urteil des EuGH vom 12. April 2018 (C-550/16, ECLI:EU:C:2018:248, A. und S. ./. Niederlande –, juris) nicht mehr aufrechtzuerhalten. Sie steht nicht im Einklang mit den Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie. [...]

21 Mit dem vorgenannten Urteil hat der EuGH auf die Vorlage eines niederländischen Gerichts im Vorabentscheidungsverfahren entschieden, dass Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) i.V.m. Art. 2 Buchst. f) der Familien­zusammenführungsrichtlinie dahingehend auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der zum Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als "Minderjähriger" im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist (Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 64).

22 Die Auslegung des EuGH ist für alle Mitgliedstaaten bindend, auch wenn die Entscheidung auf das Vorabentscheidungsersuchen eines niederländischen Gerichts ergangen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – C-283/81 – C.I.L.F.I.T. Rn. 14, juris). Sie ist bei der Anwendung des § 36 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen mit der Folge, dass im Falle des Nachzuges zu einem unbegleiteten Flüchtling für die Frage der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrages abzustellen ist (vgl. dazu auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 26. April 2018 – OVG 3 M 23.18 –, vom 4. September 2018 – OVG 3 S 47.18/OVG 3 M 52.18 – und vom 19. Dezember 2018 – OVG 3 S. 98.18 –, jeweils in juris; s. auch Habbe, Familiennachzug zu volljährig gewordenen unbegleiteten Minderjährigen, Asylmagazin 5/2018, S. 149 ff.; BeckOK AuslR/Tewocht, 20. Auflage, Stand: 1. November 2018, AufenthG § 36 Rn. 4).

23 Die Auffassung der Beklagten, die Auslegung des EuGH sei nicht auf die deutsche Rechtslage anwendbar, sondern den Besonderheiten des niederländischen Rechts geschuldet, überzeugt nicht.

24 Der EuGH legt den maßgeblichen Zeitpunkt der Minderjährigkeit ohne Bezugnahme auf das niederländische Recht oder das Recht eines sonstigen Mitgliedsstaates aus. Er legt seiner Auslegung ausschließlich die Regelungen der Familienzusammenführungsrichtlinie zugrunde. Zur Begründung verweist er darauf, die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie werde in Frage gestellt, wenn das Recht auf Familienzusammenführung auf der Grundlage dieser Bestimmung davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über den Antrag auf internationalen Schutz entscheide. Die Anknüpfung an den Zeitpunkt der Stellung des Antrages auf internationalen Schutz gewährleiste die gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden. Allein dieses Verständnis der Vorschrift stelle sicher, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung nicht von Umständen abhänge, die in der Behördensphäre liegen. [...]

26    Eine fehlende Übertragbarkeit des Urteils des EuGH lässt sich auch nicht aus Systemunterschieden zwischen dem niederländischen und dem deutschen Recht herleiten. Die vom EuGH vorgenommene Auslegung hat nicht allein für Mitgliedstaaten Geltung, die – anders als die Bundesrepublik Deutschland – ein eigenständiges, nicht akzessorisches Aufenthaltsrechts der Eltern nach Erreichen der Volljährigkeit des Stammberechtigten nach Art. 15 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie geschaffen haben. Hierfür ist der Entscheidung nichts zu entnehmen. Vielmehr hat sich der EuGH erkennbar allein mit der Frage auseinandergesetzt, wann ein Elternnachzugsanspruch auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie zu einem bereits volljährigen Flüchtling besteht, ohne hierbei ein eigen­ständiges Aufenthaltsrecht der Eltern nach Erreichen der Volljährigkeit des zusammenführenden Flüchtlings vorauszusetzen. Der EuGH hat ausdrücklich hervorgehoben, es sei nicht Sache der Mitgliedstaaten zu ent­scheiden, auf welchen Zeitpunkt sie für die Feststellung, ob die Voraussetzung der Minderjährigkeit vorliegt, abstellen möchten. Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folge nämlich, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweise, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müsse (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 40 f.). Weder Art. 10 Abs. 3 Buchst. a), noch Art. 2 Buchst. f) der Familienzusammenführungs­richtlinie würden auf nationales Recht verweisen. Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungs­richtlinie erlege den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auf, den Familienangehörigen den Nachzug zum Zusammenführenden zu gestatten, ohne dass sie dabei über einen Wertungsspielraum verfügten (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 43). [...]

29    Etwas anderes folgt auch nicht aus Art. 15 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie. Denn der Anwendungsbereich dieser Vorschrift unterscheidet sich von dem des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familien­zusammenführungsrichtlinie. Nach Art. 15 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie können Mitgliedstaaten volljährigen Kindern und Verwandten in gerader aufsteigender Linie, auf die Art. 4 Abs. 2 Anwendung findet, einen eigenen Aufenthaltstitel gewähren. Während Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Zusam­menführungsrichtlinie das Recht auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung gewährt, stellt Art. 15 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie den Mitgliedstaaten frei, den Familienangehörigen ein nach erfolgter Familienzusammenführung sich anschließendes, vom Zusammen­führenden unabhängiges Aufenthaltsrecht nach Eintritt der Volljährigkeit einzuräumen. Anders als die Beklagte meint, folgt aus der Auslegung des EuGH nicht, dass bereits mit der Gewährung des Rechts auf Familienzusammenführung auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungs­richtlinie den Eltern ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vermittelt wird. [...]

31    Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie gewährt die Einreise und den Aufenthalt. [...] Danach folgt dem Nachzugsanspruch gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie nach der Einreise ein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel mit einer Geltungsdauer von einem Jahr an. Der Aufenthaltstitel ist gemäß Art. 13 Abs. 2 Satz 2 der Familien­zusammenführungsrichtlinie verlängerbar. Eine kürzere Geltungsdauer kommt nur nach Art. 13 Abs. 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie in Betracht. Danach darf die Gültigkeitsdauer des dem Familien­angehörigen erteilten Aufenthaltstitels grundsätzlich nicht über die des Aufenthaltstitels des Zusammen­führenden hinausgehen. Folglich hat sich an die Visumserteilung ein Aufenthalt "zumindest von einer gewissen Dauer" anzuschließen (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Dezember 2018 – OVG 3 S 98.18 –, juris Rn. 12).

32 Eine Befristung des Aufenthaltsrechts auf den Zeitpunkt der Volljährigkeit ist auch nicht durch den Zweck des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie indiziert. Die Auffassung der Beklagten, wonach der Zweck des Familiennachzugs sich auf die Ausübung der elterlichen Sorge beschränke, welche mit Eintritt der Volljährigkeit endet, entspricht nicht der Familienzusammenführungsrichtlinie. Zweck ist nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie allein die "Familienzusammenführung".

33 Anders als die Beklagte meint, steht der Bindung an die vom EuGH vorgenommene Auslegung des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie auch nicht entgegen, dass der Kläger zu 5. erst nach Abschluss des Asylverfahrens, während des Visumsverfahrens volljährig geworden ist. Zwar bezieht sich der EuGH in seinem Ausspruch ausdrücklich auf Zusammenführende, die bereits während des Asylverfahrens volljährig werden (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 49). Jedoch hat der EuGH den für das Nachzugsbegehren maßgebenden Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit abstrakt bestimmt. Dies ergibt sich ohne weiteres vor dem Hintergrund, dass er weitere in Betracht kommende Zeitpunkte, auf die für die Beurteilung der Minderjährigkeit abgestellt werden könnte, erörtert und verworfen hat (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 62 f.). Die Begründung des EuGH, wonach es dem minderjährigen Flüchtling für das Recht auf Familienzusammenführung nicht zum Nachteil gereichen darf, dass er während des laufenden Asylverfahrens volljährig wird, gilt gleichermaßen und erst recht in einer Fallkonstellation wie der vorliegen­den, in der die Volljährigkeit erst während des sich anschließenden Verfahrens zur Familienzusammenführung eintritt. [...]

38 Liegt nach alledem die tatbestandliche Voraussetzung des minderjährigen Ausländers bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung des § 36 Abs. 1 AufenthG vor, scheitert der Nachzugsanspruch der Kläger zu 1. und 2. schließlich auch nicht an der Versäumung einer für die Visumsbeantragung ein­zuhaltenden Frist. Die vom EuGH statuierte zeitliche Befristung des Nachzugsrechts (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 61) findet hier keine Anwendung. Der EuGH stellt klar, dass der auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie eingereichte Antrag auf Familien­zusammenführung in Fällen, in denen der unbegleitete minderjährige Flüchtling bereits während des laufenden Asylverfahrens volljährig geworden ist, grundsätzlich innerhalb einer Frist von drei Monaten ab dem Tag zu stellen ist, an dem der nunmehr Volljährige als Flüchtling anerkannt worden ist (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 a.a.O. Rn. 61). Der EuGH begründet die Erforderlichkeit einer angemessenen Frist für die Stellung eines Antrages auf Familiennachzug auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie damit, es wäre mit dem Ziel der Vorschrift unvereinbar, könne sich ein nunmehr volljähriger Flüchtling ohne jede zeitliche Begrenzung auf die Minderjährigkeit berufen, um eine Familienzusammen­führung zu erwirken. Damit trifft der EuGH ersichtlich keine Aussage zu Sachverhalten wie dem vorliegenden, bei dem der Zusammenführende erst nach dem Abschluss des Asylverfahrens volljährig wird. Denn einer erforderlichen zeitlichen Begrenzung bedarf es jedenfalls dann nicht, wenn die Familienangehörigen den Antrag auf Familienzusammenführung zu einem Zeitpunkt stellen, in dem der Zusammenführende noch minderjährig ist. Ob dies auch für Sachverhalte gilt, bei denen der Zusammenführende nach der Schutz­anerkennung, aber vor der Antragstellung der Familienangehörigen volljährig wird, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. [...]

41 1. Die Voraussetzungen für einen Anspruch der Kläger zu 3. und 4. zum Kindernachzug zu den Klägern zu 1. und 2. gemäß § 6 Abs. 3 i.V.m. § 32 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor. [...]

42 Es bedarf keiner Entscheidung, ob der Anspruch bereits daran scheitert, dass die Kläger zu 1. und 2. noch nicht im Besitz von Visa sind, welche grundsätzlich für einen Nachzug auf der Grundlage von § 32 AufenthG genügen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 19. Dezember 2018 a.a.O. Rn. 12; vom 22. Dezember 2016 a.a.O. Rn. 3; und vom 21. Dezember 2015 – OVG 3 S 95.15 –, juris Rn. 2), zu deren Erteilung die Beklagte erst mit dem vorliegenden Urteil verpflichtet wird. Denn die allgemeinen Erteilungs­voraussetzungen der Sicherung des Lebensunterhalts und des Vorhandenseins ausreichenden Wohnraums sind nicht erfüllt, ohne dass eine Ausnahme von diesen Erfordernissen angenommen werden kann.

43 [...] Die Kläger verfügen – auch unter Berücksichtigung der Ausbildungsvergütung des Klägers zu 5. und des Einkommens des ältesten Bruders der Kläger zu 3. und 4. – unstreitig nicht über die erforderlichen Mittel zur Lebensunterhaltssicherung.

44 Es liegt auch kein atypischer Fall vor, der eine Ausnahme von der Regelvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts gebietet. [...

45 [...] Steht einem Nachzugs­begehren – wie hier – der Schutz der öffentlichen Kassen entgegen, bedarf es im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einer Abwägung dieses öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten Belangen der Familie.

47    Gemessen daran fällt die Abwägung des öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten Belangen der Kläger zu 3. und 4. zu ihren Ungunsten aus. Eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung der Unterhaltssicherung ist nicht gerechtfertigt. Der Kernfamilie bestehend aus den Klägern zu 1. bis 4. kann zugemutet werden, die familiäre Lebensgemeinschaft wie bisher in Syrien fortzusetzen.

48 Zwar ist nach den bisherigen Ausführungen nicht davon auszugehen, dass das Bleiberecht der Kläger zu 1. und 2. nach erfolgter Einreise in das Bundesgebiet zeitlich eng begrenzt wäre (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Dezember 2018 a.a.O. Rn. 14). Auch wäre dieser Umstand bei einem Verbleib der Kläger zu 3. und 4. im Herkunftsland und der damit verbundenen Trennung von ihren Eltern angesichts ihres geringen Alters von besonderem Gewicht. Zu berücksichtigen ist aber, dass sich die Kläger zu 1. und 2. nach wie vor in Syrien aufhalten. In Anbetracht dessen ist es den Kläger zu 1. bis 4. zuzumuten, ihre familiäre Lebensgemeinschaft in Damaskus fortzusetzen. Die Lebensumstände des Klägers zu 5. sind nicht dergestalt, dass er zwingend auf eine Betreuung der Kläger zu 1. und 2. angewiesen wäre, die nur in der Bundesrepublik erfolgen kann und die es gebieten, dass auch die Kläger zu 3. und 4. ihren Lebensmittelpunkt gemeinsam mit ihren Eltern in das Bundesgebiet verlagern. Der Kläger zu 5. ist volljährig. Er lebt in einer eigenen Wohnung in der Nähe seiner Brüder und absolviert eine Ausbildung. Eine aktuelle Erkrankung besteht nicht. [...] Dem verständ­lichen Wunsch des Klägers zu 5. nach einer familiären Begegnungsgemeinschaft mit seinen Eltern und jüngeren Geschwistern kann etwa durch Besuchsaufenthalte im Libanon, wo auch sein Schwager lebt, Rechnung getragen werden. Vor diesem Hintergrund steht ein etwaiger Betreuungsbedarf des Klägers zu 5. in keinem Verhältnis zu dem der Kläger zu 3. und 4. Diese sind angesichts ihres geringen Alters von sechs und zwei Jahren in besonderem Maße auf die Fürsorge der Kläger zu 1. und 2. angewiesen (vgl. insoweit zur Berücksichtigung des Alters des Kindes: BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 a.a.O. Rn. 32).

49 Einem Nachzugsanspruch der Kläger zu 3. und 4. nach § 32 AufenthG steht darüber hinaus entgegen, dass ihnen kein ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). [...] Das Erfordernis ausreichenden Wohnraums muss als Erteilungsvoraussetzung zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erfüllt sein (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31. Juli 2015 – OVG 7 B 39.14 –, juris Rn. 17).

50 Über § 29 Abs. 2 AufenthG hinausgehende Ausnahmen von dem Erfordernis ausreichenden Wohnraums aus Härtefallgründen sieht das Gesetz nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist von dem Erfordernis ausreichenden Wohnraums gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG für den Nachzug des Ehegatten und des minderjährigen Kindes zu einem Ausländer abzusehen, wenn – neben weiteren Voraussetzungen – der Ausländer im Besitz eines der dort genannten Aufenthaltstitel ist. Als Eltern können die Kläger zu 1. und 2. eine Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs.1 AufenthG, aber keinen der in § 29 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Aufenthaltstitel beanspruchen. Auf eine etwaige Flüchtlingsanerkennung der Kläger zu 1. und 2., die mit einer – insoweit privilegierenden – Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG verbunden wäre, können sich die Kläger zu 3. und 4. jedenfalls derzeit nicht berufen. Ein hypothetischer Antrag kann grundsätzlich keine Rechtsposition vermitteln, auf die sich der Betroffene zu seinen Gunsten berufen könnte (OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 22. Dezember 2016 a.a.O. Rn. 7 und vom 12. Juli 2017 a.a.O. Rn. 5).

51 Angesichts des insoweit klar eingegrenzten Anwendungsbereichs des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AufenthG kann von der Voraussetzung des ausreichenden Wohnraums auch nicht mit Blick auf Art. 8 EMRK im Wege einer konventionskonformen Auslegung abgesehen werden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. Juli 2017 – OVG 3 S 47.17/ OVG 3 M 83.17 –, juris, Rn. 5 m.w.N.). Es begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Aufenthaltsgesetz für den Familiennachzug in vorliegender Konstellation nicht die Möglichkeit eröffnet, im Ausnahmefall von dem Erfordernis ausreichenden Wohnraums abzusehen (vgl. ausführlich OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2018 a.a.O. und Beschluss vom 12. Juli 2017 – OVG 3 S 47.17/OVG 3 M 83.17 –, juris). Anderes folgt aus dem Urteil des EuGH vom 12. April 2018 schon deshalb nicht, weil sich die dortigen Erwägungen ausschließlich auf den Elternnachzug gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie beziehen, nicht aber auf den Kinder- oder Geschwisternachzug. [...]