VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 06.02.2019 - 6a K 3033/18.A - asyl.net: M27118
https://www.asyl.net/rsdb/M27118
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für eine alleinstehende Jezidin aus Nordirak und ihre Kinder:

Alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige bilden eine soziale Gruppe. Bei einer Rückkehr in den Irak sind sie an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfenden Verfolgungshandlungen ausgesetzt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, alleinstehende Frauen, soziale Gruppe, nichtstaatliche Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Flüchtlingsanerkennung, nichtstaatliche Verfolgung, Rückkehr, Verfolgung durch Dritte, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3b Abs. 2, EMRK Art. 3, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

An diesen Maßstäben gemessen begründet das Vorbringen der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.

Die Klägerin zu 1. hat bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG zu befürchten. Für die Klägerin zu 1., die keine gegen sie persönlich gerichtete Verfolgung geltend macht, besteht für den Fall einer Rückkehr in den Irak die Gefahr der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbs. AsylG). Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbs. AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Das ist hier der Fall. Die alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG in Gestalt von Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen, ausgesetzt. [...]

In Anwendung dieser Maßgaben Ist eine Gruppenverfolgung der alleinstehenden Frauen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige im Irak anzunehmen.

Alleinstehenden Frauen, die keine schutzbereiten männlichen Familienangehörige im Irak haben, droht landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der irakische Staat oder andere Organisationen sie schützen könnten.

Der Auskunftslage zufolge ist die Irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten, ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung und ihnen droht Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen. [...]

Aufgrund dieser Erkenntnislage sind die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG hier erfüllt. Die Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige ist eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbs. AsylG, weil die Verfolgung allein an das weibliche Geschlecht anknüpft.

Diese Handlungen sind aufgrund ihrer Art und Wiederholung so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, § 3a Abs.1 Nr. 1 AsylG. [...] Für den Eintritt dieser Verletzungen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit. Die erforderliche "Verfolgungsdichte" ist anzunehmen, da die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen besteht, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern die Handlungen auf alle sich im Irak aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Wie oben zitiert drohen den alleinstehenden Frauen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige jederzeit sexuelle oder andere gewalttätige Übergriffe, Obdachlosigkeit, wirtschaftliche Not, soziale Isolierung und Demütigung. Die genannten Verfolgungshandlungen drohen nicht nur selten, sondern sie sind üblich und drohen jederzeit. Da eine alleinstehende Frau ohne männliche schutzbereite Familienangehörige sich notgedrungen alleine in der Öffentlichkeit bewegen muss, um eine Wohnung zu mieten, zu arbeiten und sich zu versorgen, kann sie die bestehenden Gefahren auch nicht umgehen.

Die Verfolgung erfolgt auch im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Die geschilderten Verfolgungshandlungen knüpfen gezielt an das weibliche Geschlecht an.

Die Verfolgung geht von nichtstaatlichen Akteuren aus, ohne dass der Staat, Parteien, Organisationen oder internationale Organisationen bereit und in der Lage sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, §§ 3c und 3d AsylG. Die Irakischen Streit- und Sicherheitskräfte sind nicht befähigt, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage In der Republik Irak (Stand Dezember 2018) vom 12. Januar 2019, 8.8).

Der irakische Staat lässt dadurch, dass er die in der Verfassung garantierte Gleichstellung von Frauen und Männern nicht auf einfachgesetzlicher Ebene umgesetzt hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand Dezember 2018) vom 12. Januar 2019, S. 13) erkennen, dass er den Schutz der Frauen auch nicht beabsichtigt. [...]