Selbsteintrittspflicht zur Dublin-Familienzusammenführung auch nach Fristablauf:
1. Auch nach Ablauf der dafür vorgesehenen Fristen aus der Dublin-III-VO und der Durchführungsverordnung besteht wegen des Grundsatzes der Wahrung der Familieneinheit eine Pflicht zur Aufnahme der Eltern eines Minderjährigen, der in Deutschland subsidiär schutzberechtigt ist. Das in Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO vorgesehene Ermessen verdichtet sich dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt.
2. Dies gilt auch für volljährige Geschwister, wenn diesen aufgrund besonderer persönlicher Umstände nicht zugemutet werden kann, ohne familiäre Unterstützung zurückzubleiben. Ein solcher Härtefall liegt vor, wenn Schutzsuchende allein zurückbleiben würden, obwohl sie aufgrund ihrer schwierigen persönlichen Lage auf ihrer Familie angewiesen sind.
3. Eine besondere Dringlichkeit, die eine Verpflichtung zum Selbsteintritt im einstweiligen Rechtsschutz rechtfertigt, liegt vor, wenn im ersuchenden Mitgliedsstaat eine sachliche Entscheidung über den Asylantrag bevorsteht. Denn danach unterfallen die Schutzsuchenden nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin-III-VO, weshalb ein nicht umkehrbarer Zuständigkeitsübergang einträte, der die Familieneinheit auf asylrechtlicher Grundlage unmöglich macht.
(Leitsätze der Redakation)
[...]
24 Hinsichtlich der Antragsteller zu 1 und 2 ist die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 9 Dublin III-VO für die Prüfung der Asylanträge zuständig. Nach Art. 9 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrages zuständig, in dem ein Familienangehöriger des Antragstellers als Begünstigter internationalen Schutzes aufenthaltsberechtigt ist, wenn der Antragsteller diesen Wunsch schriftlich kundtut. Die Antragsteller zu 1 und 2 sind die Eltern des minderjährigen Antragstellers zu 4, weshalb es sich um Familienangehörige im Sinne der Dublin III-VO handelt, vgl. Art. 2 Buchstabe g) Dublin III-VO. Der Antragsteller zu 4 verfügt über subsidiären Schutz - und damit eine Form des internationalen Schutzes - in Deutschland. Auch haben die Antragsteller zu 1 und 2 sowie der Antragsteller zu 4 schriftlich den Wunsch kundgetan, die Bundesrepublik Deutschland solle für die Prüfung ihrer Asylanträge zuständig sein.
25 Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Bearbeitung des Asylverfahrens der Antragsteller zu 1 und 2 ist auch nicht wegen des Ablaufs von Zuständigkeitsfristen nach der Dublin III-VO entfallen. Griechenland hat zunächst die in Art. 21 Abs. 1, 20 Abs. 2 Dublin III-VO enthaltene Frist von drei Monaten nach Antragstellung zur Stellung des Aufnahmegesuchs eingehalten. Ein Zuständigkeitsübergang auf Griechenland gemäß Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO ist daher nicht eingetreten.
26 Die Zuständigkeit dürfte auch nicht aus anderen Gründen auf Griechenland übergegangen sein. Nach Ablehnung des Aufnahmegesuchs durch die Bundesrepublik Deutschland hat Griechenland hiergegen remonstriert. Gemäß dem insoweit maßgeblichen Art. 5 Abs. 2 der EU-Zuständigkeits-DVO ist der ersuchende Mitgliedstaat berechtigt, eine neuerliche Prüfung seines Gesuches zu verlangen, wenn er sich auf weitere Unterlagen berufen kann. Diese Möglichkeit muss binnen drei Wochen nach Erhalt der ablehnenden Antwort in Anspruch genommen werden. Vorliegend hat Griechenland innerhalb der dreiwöchigen Frist sog. Holding Letter an die Bundesrepublik Deutschland übersandt und damit zu erkennen gegeben, dass eine neuerliche Prüfung verlangt werde. Die Übersendung von weiteren Unterlagen, die den griechischen Behörden zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorlagen, wurde angekündigt und erfolgte am 26. Februar 2018 und damit nach Ablauf der Frist von drei Wochen. Ob es für die Einhaltung der dreiwöchigen Frist ausreicht, dass der ersuchende Mitgliedstaat eine neuerliche Prüfung verlangt und etwaige weitere Unterlagen nachgereicht werden können oder ob bereits bei Stellung des Remonstrationsersuchens sämtliche Unterlagen eingereicht werden müssen, ist in Art. 5 Abs. 2 EU-Zuständigkeits-DVO nicht geregelt. Eine abschließende Klärung dieser Frage ist vorliegend jedoch entbehrlich.
27 Denn jedenfalls erging die Antwort der Bundesrepublik Deutschland hier erst über ein halbes Jahr nach dem Remonstrationsersuchen der griechischen Behörden. Die in Art. 5 Abs. 2 EU-Zuständigkeits-DVO vorgesehene Antwortfrist von zwei Wochen war daher bereits seit langem abgelaufen. Läuft die zweiwöchige Frist ab, ohne dass der ersuchte Mitgliedstaat auf das Remonstrationsersuchen antwortet, geht die Zuständigkeit nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes grundsätzlich auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (vgl. EuGH, Urteil vom 13. November 2018 - C-47/17, C-48/17 -, juris Rn. 90).
28 Allerdings ist zu beachten, dass die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zwei Fallkonstellationen betraf, in denen sich der Ablauf der entsprechenden Fristen zugunsten der Asylantragsteller auswirkte und diese sich darauf berufen hatten. In seiner Begründung nahm der Europäische Gerichtshof unter anderem auf seine bisherige Rechtsprechung Bezug, wonach die Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren obligatorisch im Einklang mit den unter anderem in Kapitel VI der Dublin III-VO aufgestellten Regeln und insbesondere unter Beachtung einer Reihe zwingender Fristen durchgeführt werden müssen (vgl. EuGH, Urteile vom 26. Juli 2017, Mengesteab, C-670/16, juris Rn. 49 und 50 sowie vom 25. Januar 2018, Hasan, C-360/16, juris Rn. 60). Auch diese beiden Entscheidungen betrafen Fallkonstellationen in denen sich die Asylantragsteller auf den Ablauf der Fristen berufen hatten. Vorliegend handelt es sich hingegen um eine Fallkonstellation, die in der Literatur auch als "dublin reversed" bezeichnet wird (vgl. zu diesem Begriff Nestler/Vogt in ZAR 2017, 21). Das Aufnahmegesuch Griechenlands wird hier darauf gestützt, dass sich die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschlands für eine beabsichtigte Familienzusammenführung aus Art. 9 Dublin III-VO ergibt. Der Ablauf der entsprechenden Fristen, welcher eine Zuständigkeit Griechenlands begründen könnte, wirkt sich hier nicht zu Gunsten sondern zu Lasten der Asylantragsteller aus. Dies hätte zur Konsequenz, dass wegen der im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung nicht eingehaltenen formellen Fristen, die der Straffung und Beschleunigung des Dublin-Verfahrens dienen, auf Dauer eine Familienzusammenführung unmöglich würde. Dieses Ergebnis kann nicht Intention des Dublin-Regimes sein. Diesbezüglich ist in den Blick zu nehmen, dass der Übergang der Zuständigkeit aufgrund Fristablaufs nicht nur der bloßen Aufgabenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten dient, sondern auch im spezifischen Interesse des Asylbewerbers liegt und demzufolge auch diese Zuständigkeitsnorm ihm subjektive Rechte verleiht. So zielt die Norm des Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO ebenso wie Art. 5 Abs. 2 der EU-Zuständigkeits-DVO darauf ab, dem schutzwürdigen Interesse des Flüchtlings dahingehend Rechnung zu tragen, dass sein Schutzgesuch - nach Ablauf eines gewissen Zeitraums, welcher der Klärung von Zuständigkeitsfragen vorbehalten ist - in angemessener Zeit in der Sache geprüft wird. Hierfür sprechen bereits Wortlaut und Regelungszusammenhang der Vorschrift. Wie auch bei Ablauf der Überstellungsfrist in Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO sanktioniert die Verordnung das nicht rechtzeitige Aufnahmegesuch in Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO mit einem ausdrücklichen Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden Mitgliedstaat (vgl. VG Minden, Urteil vom 5. Juni 2015 - 6 K 182/15.A -, juris Rn. 42). In der vorliegenden Fallkonstellation der Familienzusammenführung würde indes durch den Übergang der Zuständigkeiten infolge Fristversäumnis gerade nicht den Interessen der Antragsteller Rechnung getragen werden. Vielmehr würden ihre Rechte dadurch konterkariert. Ein Auslegungsergebnis wonach das Versäumen von Fristen der EU-Zuständigkeits-DVO die Konsequenz haben kann, dass Familienangehörigen wegen einer Fristversäumnis durch eine staatliche Behörde - jedenfalls unter asylrechtlichen Gesichtspunkten - ihr Menschenrecht auf Familienzusammenführung (Art. 8 EMRK, Art. 7 GRC) versagt wird, ist daher abzulehnen (vgl. VG Münster, Beschluss vom 20. Dezember 2018 - 2 L 989/18.A -, Abdruck S. 19 m.w.N.). Dies gilt umso mehr, als dass es die mitgliedstaatlichen Behörden anderenfalls in der Hand hätten, ihre nach Kapitel III der Dublin III-VO bestehende Zuständigkeit zum Zwecke der Familienzusammenführung damit zu vereiteln, dass sie die ohnehin sehr kurz bemessene zweiwöchige Frist des Art. 5 Abs. 2 EU-Zuständigkeits-DVO ohne Antwort verstreichen lassen.
29 Der bestehende Konflikt zwischen Familieneinheit und Fristbeachtung dürfte mit Blick auf die besondere Wichtigkeit der Familieneinheit und insbesondere angesichts des besonders hohen Schutzgutes des Kindeswohls nur dahingehend aufgelöst werden können, dass eine Pflicht des ersuchten Mitgliedstaates zur Annahme eines Aufnahmegesuches auch nach Fristablauf besteht. In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte hinzuweisen, die in der vergleichbaren Fallkonstellation der Überschreitung der Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ein Weiterbestehen des Rechtes auf Überstellung eines Antragstellers zur Wahrung der Familieneinheit annehmen. Insoweit wird darauf abgestellt, dass in den Fällen, in denen der ersuchte Mitgliedstaat seiner Übernahmepflicht nach Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO nicht hinreichend nachkommt, dies nicht zu Lasten des betreffenden Antragstellers gehen kann und damit nicht zum Untergang seiner Rechtsposition führen darf (vgl. VG Münster, Beschluss vom 20. Dezember 2018 - 2 L 989/18.A -, Abdruck S. 20 m.w.N.; vgl. zum Ablauf der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO: VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 22 L 442/18.A - juris Rn. 43 ff.; VG Freiburg, Beschluss vom 8. Mai 2018 - A 4 K 11125/17 -, juris Rn. 14 ff.; VG Halle (Saale), Beschluss vom 12. Juli 2018 - 7 B 125/18 HAL -, juris Rn. 14; VG Wiesbaden, Beschluss vom 9. März 2018, - 4 L 444/18.WI.A -, Abdruck S. 7).
30 Ob die Zuständigkeit nach Ablauf der zweiwöchigen Antwortfrist gemäß Art. 5 Abs. 2 EUZuständigkeits-DVO auf Griechenland übergegangenen ist oder ob dies nach dem dargelegten nicht der Fall seien dürfte, kann vorliegend jedoch dahinstehen. Denn jedenfalls ergibt sich ein Anspruch der Antragsteller zu 1 und 2 auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO.
31 Nimmt man nicht bereits an, dass der Konflikt zwischen der Familieneinheit und der Einhaltung der in der Dublin III-VO und der hierzu erlassenen EU-Zuständigkeits-DVO vorgesehenen Fristen wegen des hochrangigen Rechtsgutes der Familieneinheit sowie des Minderjährigenschutzes der Nachrang gebietet, so verdichtet sich jedenfalls das in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO der Antragsgegnerin zustehende Ermessen zu einer Pflicht zum Selbsteintritt.
32 Nach Erwägungsgrund (17) der Dublin III-VO sollten die Mitgliedstaaten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können, um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, und einen bei ihm oder einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie für eine solche Prüfung nach den in dieser Verordnung festgelegten verbindlichen Zuständigkeitskriterien nicht zuständig sind. [...]
33 Mit Blick auf die enge familiäre Verbundenheit der Antragsteller (Eltern - minderjähriges Kind) sprechen humanitäre Gründe für eine Familienzusammenführung. [...]
34 Hinsichtlich der Antragstellerin zu 3 ergibt sich die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, weil die Antragstellerin aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles einen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin hat. Eine besonders schwerwiegender Härtefall liegt insbesondere deshalb vor, weil die Antragstellerin zu 3 bei einer Überstellung ihrer Eltern in die Bundesrepublik Deutschland in Griechenland auf sich alleine gestellt wäre. Es kann ihr vor dem Hintergrund der von ihr erlittenen Gewalt nicht zugemutet werden, ohne familiäre Unterstützung in einem griechischen Flüchtlingslager zurückzubleiben. Dass sie in ihrer schwierigen persönlichen Lage besonders auf ihre Eltern als Bezugsperson angewiesen ist, ergibt sich insbesondere aus dem Umstand, dass sie bislang immer mit diesen zusammengelebt und noch keine eigene Familie begründet hat. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin zu 3 zum Zeitpunkt der von ihr in Syrien erlittenen Gewalt erst 20 Jahre alt war und auch jetzt erst 23 Jahr alt ist. Auch waren und sind ihre Eltern zur Verarbeitung des Geschehenen für sich unerlässlich, weil sie sich ihnen nach den Geschehnissen anvertraut hat und diese sie in jeglicher Hinsicht unterstützt haben. Auch die gemeinsame Flucht aus Syrien und der seitdem bestehende Zusammenhalt sind insoweit von besonderer Bedeutung.
35 [...] Weitergehenden Anforderungen an die Glaubhaftmachung ihres Schicksals und ihrer Traumatisierung sind nicht zu stellen. Weil sich die Antragstellerin zu 3 in einem Flüchtlingslager in Griechenland befindet, dürfte insbesondere ein ausführliches psychologisches Attest aufgrund der dort herrschenden Versorgungslage kaum zu erlangen sein.
36 Die Antragsteller haben zudem einen Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Dringlichkeit einschließlich drohenden Rechtsverlustes glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich daraus, dass nach den gescheiterten Versuchen seitens der griechischen Dublin-Unit auf Übernahme der Antragsteller durch die Antragsgegnerin nunmehr eine Entscheidung in der Sache über das Asylbegehren der Antragsteller bevorsteht. Die Anhörungstermine der Antragsteller in Griechenland sind ausweislich der vorliegenden Schreiben der griechischen Behörden für den 16. bzw. den 23. Mai 2019 vorgesehen. Erfolgt im Anschluss hieran eine Bescheidung über das Asylbegehren, unterfielen die Antragsteller nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin III-VO. Um den Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland abzuwenden, bedarf es daher der einstweiligen Anordnung. [...]