VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 15.01.2019 - 9 K 1669/18 - Asylmagazin 8/2019, S. 325 ff. - asyl.net: M27052
https://www.asyl.net/rsdb/M27052
Leitsatz:

Kein Betreten von Flüchtlingsunterkünften zum Zweck der Abschiebung ohne richterlichen Beschluss:

1. Das Öffnen und Betreten von Wohnräumen in Flüchtlingsunterkünften mit dem Ziel, sich dort aufhaltende Personen zu finden und zu ergreifen, erfüllt den Tatbestand einer Durchsuchung (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.2.2018 - OVG 6 L 14.18 - asyl.net: M26051).

2. Private Räume in Flüchtlingsunterkünften sind vom Schutzbereich des Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) erfasst.

3. Sie dürfen von Vollstreckungspersonen im Rahmen einer Abschiebung nur mit richterlichem Beschluss durchsucht werden (hier gem. § 23 Abs. 3 HmbVwVG).

(Leitsätze der Redaktion; Regelungen, die § 23 Abs. 3 HmbVwVG entsprechen, gibt es auch in anderen Bundesländern)

Schlagwörter: Abschiebung, Wohnungsdurchsuchung, Beschluss, Richtervorbehalt, Unverletzlichkeit der Wohnung
Normen: GG Art. 13 Abs. 1, HmbVwVG § 23,
Auszüge:

[...]

Die Ermächtigungsgrundlage für das Betreten und Durchsuchen von Wohnungen im Rahmen der Verwaltungsvollstreckung ergibt sich aus § 23 HmbVwVG. Die Vollziehungsperson ist danach befugt, Wohnungen, Geschäftsräume und sonstiges Besitztum der pflichtigen Person zu betreten und zu durchsuchen, soweit der Zweck der Vollstreckung es erfordert (§ 23 Abs. 1 HmbVwVG). Sie ist befugt, verschlossene Türen und Behältnisse zu öffnen oder öffnen zu lassen (§ 23 Abs. 2 HmbVwVG). Die Wohn- und Geschäftsräume der pflichtigen Person dürfen ohne deren Einwilligung nur auf Grund einer nicht, wenn die Einholung der Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde (§ 23 Abs. 3 Sätze 1 u. 2 HmbVwVG). Mit diesen gesetzlichen Vorgaben stand das Vorgehen der Beklagten nicht im Einklang.

a) Bei den beiden Zimmern der Kläger in der Wohnunterkunft handelt es sich um eine Wohnung im Sinne von § 23 HmbVwVG und Art. 13 Abs. 1 GG.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist Wohnung die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet (BVerfG, Beschl. v. 13.10.1971, 1 BvR 280/66, Schnellreinigung, Betriebsbetretungsrecht, juris Rn. 45; Urt. v. 15.12.1983, 1 BvR 209/83 u.a., Volkszählung, Mikrozensus, juris Rn. 141). Im Interesse eines wirksamen Schutzes der Wohnung hat das Bundesverfassungsgericht diesen Begriff weit ausgelegt (BVerfG, Urt. v. 17.2.1998, 1 BvF 1/91, Kurzberichterstattung im Fernsehen, juris Rn. 134). Danach sind die Zimmer der Kläger in der Wohnunterkunft als Wohnung zu qualifizieren, und zwar als Wohnung im engeren Sinne, die zu Wohnzwecken genutzt wurde und nicht – wie Betriebs- und Geschäftsräume – zur Aufnahme sozialer Kontakte mit der Außenwelt bestimmt war (s. auch Zölls, ZAR 2018, 56 (58); Herrmann, ZAR 2017, 201 (202); Kunig, in: von Münch/Kunig, GG, 6. Auflage 2012, Art. 13 Rn. 15; Herdegen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 71. Lfg. Oktober 1993, Art. 13 Rn. 36). [...]

Der Umstand, dass ausreisepflichtige Asylbewerber mit ihrer Abschiebung auch die Zimmer ihrer Wohnunterkunft räumen müssen und darin deshalb anschließend nicht mehr ihr Privatleben entfalten können, vermag diesen Räumlichkeiten vor einer Abschiebung nicht die Eigenschaft als räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet, zu nehmen (a. A. VG Neustadt an der Weinstraße, Beschl. v. 28.6.2002, 7 N 1804/02 NW, InfAuslR 2002, 410 f.). Es kommt zudem nicht darauf an, dass es sich um eine Wohnunterkunft der Beklagten selbst handelt, da Träger des Grundrechts aus Art. 13 GG unabhängig von den Eigentumsverhältnissen jeder unmittelbare Besitzer bzw. Träger der tatsächlichen Sachherrschaft ist (Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Lieferung 71, März 2014, Art. 13 Rn. 22; Hermes, in: Dreier, GG, 3. Auflage 2013, Art. 13 Rn. 21; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 13 Rn. 6).

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu, dass es sich bei einem Haftraum nicht um eine Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG handelt, da von dessen Zuweisung als persönlicher und vom allgemeinen Anstaltsbereich abgegrenzter Lebensbereich das Hausrecht der Anstalt unberührt bleibt (BVerfG, Kammerbeschl. v. 30.5.1996, 2 BvR 727/94 u.a., juris Rn. 13), lässt sich nicht auf Zimmer in Gemeinschaftsunterkünften im Sinne von § 53 AsylG übertragen. Auch der dortige Aufenthalt beruht zwar nicht auf einer freiwilligen Entscheidung der Betroffenen, sondern auf einer behördlichen Entscheidung zur öffentlich-rechtlichen Unterbringung. Die Privatsphäre der Asylbewerber ist in den ihnen zugewiesenen Zimmern in Gemeinschaftsunterkünften jedoch deutlich weniger eingeschränkt als bei Gefangenen in Hafträumen.

b) Die Durchsuchung der klägerischen Wohnung war rechtswidrig.

aa) Die Maßnahmen der Beklagten sind – unabhängig davon, ob die Wohnung auch nach Sachen durchsucht wurde – als Durchsuchung im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 1 HmbVwVG und Art. 13 Abs. 2 GG zu qualifizieren.

Für den Begriff der Durchsuchung kennzeichnend ist das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhalts, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung von sich aus nicht offenlegen oder herausgeben will (BVerfG, Beschl. v. 3.4.1979, 1 BvR 994/76, Durchsuchungsanordnung, Zwangsvollstreckung, juris Rn. 26; Beschl. v. 5.5.1987, 1 BvR 1113/85, Betretungsrecht des Sachverständigen, Sachverständiger, juris Rn. 26; Kammerbeschl. v. 19.11.1999, 1 BvR 2017/97, juris Rn. 11). Die Durchsuchung erschöpft sich nicht in einem Betreten der Wohnung, sondern umfasst als zweites Element die Vornahme von Handlungen in den Räumen (BVerfG, Beschl. v. 16.6.1987, 1 BvR 1202/84, Zwangsvollstreckung, Durchsuchungsanordnung, juris Rn. 26). Die gesetzlich zulässigen Durchsuchungen dienen als Mittel zum Auffinden und Ergreifen einer Person, zum Auffinden, Sicherstellen oder zur Beschlagnahme einer Sache oder zur Verfolgung von Spuren. Begriffsmerkmal der Durchsuchung ist somit die Suche nach Personen oder Sachen oder die Ermittlung eines Sachverhalts in einer Wohnung. Kennzeichnend für die Durchsuchung ist die Absicht, etwas nicht klar zutage Liegendes, vielleicht Verborgenes aufzudecken oder ein Geheimnis zu lüften, mithin das Ausforschen eines für die freie Entfaltung der Persönlichkeit wesentlichen Lebensbereichs, das unter Umständen bis in die Intimsphäre des Betroffenen dringen kann (BVerfG, Urt. v. 6.9.1974, I C 17.73, juris Rn. 16; BVerwG, Urt. v. 25.8.2004, 6 C 26/03, juris Rn. 24; als Betreten geschützter Räume, verbunden mit der Vornahme von Augenschein an Personen, Sachen und Spuren bezeichnet die Durchsuchung: Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Lieferung 71, März 2014, Art. 13 Rn. 22).

(1) Gemessen an diesen Vorgaben handelt es sich um eine Durchsuchung, wenn Vollstreckungspersonen eine Wohnung öffnen und betreten, um darin bestimmte Personen aufzufinden und zu ergreifen (s. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 19.2.2018, OVG 6 L 14.18, juris Rn. 2; VG Berlin, Beschl. v. 16.2.2018, 19 M 62.18, juris Rn. 9; VG Bremen, Urt. v. 13.1.2012, 2 K 2625/08, www.asyl.net; Herrmann, ZAR 2017, 201 (204); Zeitler, ZAR 2014, 365 (367); LG Verden, Beschl. v. 25.8.2004, 6 T 120/04, BeckRS 2004, 31369220). [...]

Reicht es für die Annahme einer Durchsuchung aus, dass Vollstreckungspersonen eine Wohnung öffnen und betreten, um darin bestimmte Personen aufzufinden und zu ergreifen, kommt es nicht auf die Größe und Übersichtlichkeit der zu durchsuchenden Räume sowie darauf an, ob sich die zu ergreifenden Personen – etwa unter einem Bett oder in einem Schrank – in der Wohnung verborgen halten. Bei einem gegenteiligen Verständnis wäre nach Auffassung der Kammer in der Praxis eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Durchsuchung und bloßem Betreten einer Wohnung auch kaum möglich. [...]

bb) Eine richterliche Anordnung zur Durchsuchung der Wohnung der Kläger lag entgegen § 23 Abs. 3 Sätze 1 u. 2 HmbVwVG und Art. 13 Abs. 2 GG nicht vor. Die Beklagte durfte von der Einholung einer richterlichen Anordnung nicht absehen, weil dies nicht den Erfolg der Durchsuchung gefährdet hätte. Es bestand keine Gefahr im Verzug. Die Beklagte hat die Durchführung der Abschiebung vielmehr mit einem Vorlauf von mehreren Wochen geplant, in dem eine richterliche Anordnung hätte beantragt werden können. [...]