VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 12.08.2018 - 3 K 3258/17.DA.A - asyl.net: M27021
https://www.asyl.net/rsdb/M27021
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine schwer hörbehinderte Frau aus Somalia, da behinderte alleinstehende bzw. geschiedene Frauen eine soziale Gruppe bilden, die besonderer Diskriminierung und sexueller Gewalt ausgesetzt ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Behinderung, Schwerbehinderung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Frauen, die sich nicht der in ihrer Heimat durch Tradition und gesellschaftliche Verhältnisse vorgezeichneten Diskriminierung und Entrechtung unterwerfen, weisen eine hinreichend abgegrenzte Identität als Gruppenmitglieder im Verhältnis zu der sie umgebenden Gesellschaft im Sinne von § 3b Abs. I Nr. 4 AsylG auf (VG Darmstadt, Urt. v. 09.03.2016 - 3 K 304/14.DA.A -; vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 13.02.2014 - A 7 K 1457/13 -, juris; VG Braunschweig, Urt. v. 23.6.2011 - 1 A 125/10 -, juris).

Drohende (neue) Zwangsverheiratung oder häusliche Gewalt ist eine Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung. Die von Eltern oder anderen die Zwangsverheiratung durchsetzenden Verwandten sowie von Mitgliedern der Al-Shabaab vorgenommenen Praktiken sind darauf ausgerichtet, die sich weigernden Frauen als Gruppe unter Missachtung ihres religiösen und personalen SeIbstbestimmungsrechts den Herrschaftsansprüchen dieser Gruppierung zu unterwerfen (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: Juni 2014, B 2 § 3b AsylG Rdnr. 35 m.w.Nw.). Die infolge der Schutzlosigkeit potentiell drohende Gefahr der Zwangsverheiratung teilen alle unverheirateten oder geschiedenen Frauen in vergleichbarer Lage und prägt ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Marx, AsylG, Kommentar zum Asylverfahrensrecht, 9. Aufl. 2017, § 3b Rdnr. 50).

Zudem sind Menschen mit Behinderungen - wie die Klägerin - in Somalia stärker Misshandlungen ausgesetzt; sie werden als einfachere Angriffsziele für Zwangsheirat, Gewalt, Zwangsvertreibung, Vergewaltigung und anderen Formen sexueller Gewalt angesehen. Mädchen und Frauen mit einer Behinderung sind im Hinblick auf häusliche Gewalt und Zwangsverheiratung besonders gefährdet. 1hre Familien betrachten sie als Bürde, als Menschen geringeren Wertes. Amnesty International (ai) berichtet, dass in mehreren Fällen Frauen gezielt aufgrund ihrer Behinderung ausgewählt wurden, da sie leichter anzugreifen gewesen seien ( www.amnesty.de/2015/3/24/somalia-behinderte-menschen-schwerwiegend-diskriminiert v. 25.03.2015 v. 25.03.2015). Die allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz von häuslicher Gewa1tund Zwangsheirat führe dazu, dass viele Fälle weder dokumentiert noch untersucht würden und Mädchen und Frauen aufgrund ihrer Behinderung von Tätern als wertlos angesehen würden, was das Risiko, vergewaltigt oder missbraucht zu werden, erhöhe (https://amnesty-zentral-ostafrika.de/2015/11/menschenrechtsverletzungen-an-menschen-mit-einer-behinderung, abgerufen am 10.09.2018). Für Menschen mit Behinderungen sei es auch in der Regel schwieriger, Hilfsgüter zu erhalten. Es gebe Berichte, wonach z.B. niemand an blinde Menschen etwas weitergebe, wenn Hilfsgüter verteilt würden (https://www.amnesty.de/2015/3/24/somalia-behinderte-menschen-schwerwiegend-diskriminiert v. 25.03.2015).

Nach Überzeugung des Gerichts war die Klägerin also zu dem Zeitpunkt, als sie sich zur Flucht entschloss, von asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht. Sie war nicht nur aufgrund der allgemein in Somalia herrschenden chaotischen Zustände, sondern aufgrund konkret in ihrer Person liegender Umstände in das Visier der Al-Shabaab geraten.

Schutz gegenüber derartigen Bedrohungen war und ist in Somalia von staatlichen Stellen oder sonstigen Organisationen (§ 3d Abs. 1 AsylG) nicht zu erlangen (s. ai, a.a.O.). Ebenso wenig stünde der Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Heimatland heute eine interne Fluchta1ternative zur Verfügung, bei der sie vor derartigen Nachstellungen sicher wäre (§ 3e AsylG); allein schon deshalb nicht, weil sie als alleinstehende, geschiedene Frau ohne familiären Rückhalt dort kein Leben oberhalb des Existenzminimums führen könnte. Ungeachtet dessen kann ihr eine Rückkehr nach Somalia aufgrund des vom Bundesamt bereits zugestandenen subsidiären Schutzes ohnehin nicht zugemutet werden. [...]