VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 11.01.2019 - 3 A 219/18 - asyl.net: M27008
https://www.asyl.net/rsdb/M27008
Leitsatz:

Selbsteintritt Deutschlands wegen dauerhaften Abschiebeverbots für eine Familie mit Kleinkind ohne Zusicherung der italienischen Behörden:

1. Die Überstellung einer Familie mit Kleinkind nach Italien ohne individuelle Zusicherung stellt eine ein Abschiebungsverbot begründende Verletzung des Art. 3 EMRK dar.

2. Wenn die das Abschiebeverbot begründenden Tatsachen nicht in absehbarer Zeit entfallen und ohne materielle Prüfung des Asylantrags in Deutschland die Konstellation der sogenannten "refugees in orbit" vorliegt, also in absehbarer Zeit in keinem Dublin-Staat ein Asylverfahren durchgeführt werden kann, ist das Ermessen des Selbsteintrittsrechts aus Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auf Null reduziert.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Italien, besonders schutzbedürftig, Kind, Neugeborene, Kleinkind, Ermessensreduzierung auf Null, Selbsteintritt, minderjährig, Zusicherung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Dublin III-Verordnung, Abschiebung, Abschiebungsandrohung, Aufnahmebedingungen,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Der Asylantrag ist nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG als unzulässig abzulehnen, da die Zuständigkeit Italiens nicht mehr besteht. [...]

Die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Kläger ist aber gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO im Wege der Ermessensreduzierung auf Null entfallen, da die Kläger aufgrund eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 (BGBl. II 1952, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 22.10.2010 [BGBl. II S. 1198]; EMRK) auf absehbare Zeit nicht nach Italien abgeschoben werden dürfen. [...]

Die Ermessensreduktion ergibt sich aus dem Beschleunigungsgrundsatz der Dublin III-VO (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 20.12. 2016 - 8 LB 184/15 juris, Rn. 60 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 08.12.2017 - 11 A 1966/15.A -, juris, Rn. 6 ff.; VG Magdeburg, Urteil vom 06.03.2018 - 5 A 197/15 -, juris, Rn. 18 ff.) und der Zuordnung der Kläger zur Gruppe der besonders Schutzbedürftigen, was zu der Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK führt.

Eine Zuständigkeit Italiens für solche Dublin-Rückkehrer, die zu einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe gehören, entfällt gemäß Art, 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, wenn die nach Art. 21 ff. der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013) und den Grundsätzen der Tarakhel-Entscheidung des EGMR (vom 04.11.2014 - Tarakhel ./. Schweiz (Az. 29217/12, NVwZ 2015, 127 ff., 131, Rn. 118 ff.)) erforderliche einzelfallbezogene schriftliche Zusicherung, u.a. eine gesicherte Unterkunft zu erhalten, um Gesundheitsgefahren auszuschließen und den besonderen Belangen dieser speziellen Personengruppe Rechnung zu tragen, nicht vorliegt. [...]

Jedoch besteht die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGrCh und Art. 3 EMRK, die zu einem zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führt, wenn es sich bei den Asylantragstellenden um besonders schutzbedürftige Personen handelt, bei denen nach dem Urteil des EGMR im Verfahren Tarakhel ./. Schweiz (vom 04.11.2014, a.a.O., S. 127 ff.) vor einer Abschiebung Garantien der italienischen Behörden einzuholen sind (vgl. auch Nds. OVG, Urteil vom 04.04.2018, a.a.O., Rn. 89 ff.). Dies trifft auf die Kläger zu.

Selbstständig tragend gebietet auch die Vermeidung einer Situation sog. "refugees in orbit", die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung Gebrauch zu machen und die Kläger in das nationale Asylverfahren zu überführen (vgl. zum Folgenden VG Sigmaringen, Urteil vom 16.11.2017 - A 7 K 2246/17 -, juris, Rn. 29). Denn andernfalls drohte die sowohl nach dem gemeinsamen europäischen Asylsystem als auch aus Gründen des materiellen Asylrechts zu vermeidende Situation, dass die Kläger zu sog. "refugees in orbit" (hierzu allgemein OVG NRW, Urteil vom 16.09.2015 - 13 A 2159/14.A und Az. 13 A 800/15.A - jeweils juris, Rn. 107 ff. - unter Verweis auf VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.04.2015 - A 11 S 121/15 - juris, Rn. 32; eine Ermessensreduktion auf Null annehmend - sofern kein anderer Mitgliedstaat zuständig ist - Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 29, Rn. 49) würden und damit auf nicht absehbare Zeit von der Möglichkeit ausgeschlossen wären, überhaupt ein Asylverfahren durchzuführen (vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 16.11.2017, a.a.O.). Denn nach Italien, wo sie ein Asylverfahren betreiben könnten, können die Klägerin aus drittstaatsbezogenen Gründen (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK) in absehbarer Zeit nicht rücküberstellt werden. In Deutschland, wo sie bleiben können, könnten sie - wenn eine Ermessensreduktion auf Null nicht angenommen werden würde - (dauerhaft) kein Asylverfahren durchführen.

Soweit das Bundesverwaltungsgericht in einem Beschluss vom 11.04.2017 (- 1 B 39/17 -, juris, Rn. 5) davon ausgeht, dass die Annahme, die Beklagte sei in Fällen vergleichbarer Art verpflichtet, von ihrem Seibsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, mit der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 16.02.2017 - C-578/16 PPU -, juris, Rn. 88) nicht ohne Weiteres zu vereinbaren sein dürfte, führt dies zu keinem anderen Ergebnis (vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 08.12.2017, a.a.O., Rn. 20 ff.; siehe auch Filzwieser/Sprung, a.a.O.). Denn die Entscheidung des EuGH betrifft allein die Konstellation eines schwer kranken Asylbewerbers, dessen Gesundheitszustand sich voraussichtlich nicht kurzfristig bessern wird oder sich im Fall einer langfristigen Aussetzung des Verfahrens verschlechtern kann. In diesem Zusammenhang könne Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO nicht im Licht von Art. 4 EuGrCh dahin ausgelegt werden, dass sie den Mitgliedstaat zur Anwendung der Ermessensklausel (aus europarechtlicher Sicht) verpflichte (vgl. EuGH, Urteil vom 16.02.2017, a.a.O.). Diese Fälle sind aber mit der hier nicht erfolgenden Überstellung aufgrund fehlender individueller Zusicherung der italienischen Behörden im oben beschriebenen Sinne nicht vergleichbar. Denn im Gegensatz zu dem Fall, über den der EuGH entschieden hat, betrifft die Unmöglichkeit der Überstellung hier sämtliche Fälle der in Betracht kommenden (Rück-) Überstellungen von vulnerablen Personen in einen konkreten Mitgliedstaat, nämlich nach Italien. Es ist gerade kein Einzelfall betroffen, sondern es geht um die Überstellung der vulnerablen Personengruppe insgesamt (vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 08.12.2017, a.a.O., Rn. 23 und Beschluss vom 08.12.2017 - 11 A 585/17.A -, juris, Rn. 23; Filzwieser/Sprung, a.a.O.), weil Italien im jetzigen Verfahrensstadium über eine nur allgemeine Zusicherung hinaus keine erforderlichen konkret-individuellen Zusicherungen abgibt, das Bundesamt solche im derzeitigen Verfahrensstadium auch nicht anfordert, und deswegen allgemein keine Rückführungen in Betracht kommen. [...]