EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 13.12.2018 - C-412/17; C-474/17 Deutschland gg. Touring Tours und Sociedad de Transportes - asyl.net: M26896
https://www.asyl.net/rsdb/M26896
Leitsatz:

Keine Kontrollpflicht für Reiseunternehmen bei Reisen innerhalb des Schengen-Raums:

1. Die Regelung in § 63 AufenthG, wonach Beförderungsunternehmen die Reisedokumente und Aufenthaltstitel ihrer Passagiere zu kontrollieren haben, widerspricht dem Schengener Grenzkodex, da es sich inhaltlich um Grenzkontrollen handelt. Diese sind jedoch nach europäischem Recht unzulässig.

2. Die Nichtdurchführung von Kontrollen darf nicht zur Folge haben, dass gegen die Unternehmen zwangsgeldbewehrte Untersagungsverfügungen erlassen werden.

(Leitsätze der Redaktion; Verbundene Rechtssachen Deutschland gegen Touring Tours und Travel GmbH - C-412/17 - und Sociedad de Transportes SA - C-474/17)

Schlagwörter: Beförderungsverbot, Beförderungsunternehmen, Reisebusunternehmen, Grenzkontrolle, Reisedokument, Reisepass, Visum, Aufenthaltstitel, Beförderungsunternehmer, Zwangsgeld, Visum, Aufenthaltstitel,
Normen: AufenthG § 63, AEUV Art. 67 Abs. 3, VO 562/2006 Art. 21,
Auszüge:

[...]

58 Somit ist festzustellen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen "Grenzkontrollen" im Sinne von Art. 21 Buchst. a Satz 2 Ziff. i der Verordnung Nr. 562/2006 zum Ziel haben, da mit ihnen überprüft werden soll, ob die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 562/2006 in Bezug auf die erforderlichen Reisedokumente aufgeführten Voraussetzungen für die Einreise in die Mitgliedstaaten des Schengen-Raums erfüllt sind; diese Vorschrift wird in § 13 Abs. 1 AufenthG wiedergegeben. [...]

68 Der Umstand, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen durch eine ganz besonders enge Verbindung zur Überschreitung einer Binnengrenze gekennzeichnet sind, weil eben dies der Auslöser der Kontrollen ist, deutet in besonderem Maß auf eine "gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen" im Sinne von Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 hin.

69 Das gilt umso mehr, als die nach § 63 AufenthG vorgeschriebenen und die im übrigen deutschen Hoheitsgebiet durchgeführten Kontrollen auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhen, obwohl die letztgenannten Kontrollen Binnenlinien mit vergleichbarer Streckenlänge wie die grenzüberschreitenden Linien, die Gegenstand der erstgenannten Kontrollen sind, betreffen können. Nach der in Rn. 54 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung kann ein solcher Umstand im Rahmen der Gesamtwürdigung berücksichtigt werden, die für die Einstufung eines Kontrollmechanismus als Maßnahme mit "gleiche[r] Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen" im Sinne von Art. 21 Buchst a der Verordnung Nr. 562/2006 erforderlich ist.

70 Wie auch das vorlegende Gericht ausgeführt hat, findet § 63 AufenthG nämlich nur auf Buslinien Anwendung, die eine Binnengrenze des Schengen-Raums überschreiten, und erfasst die auf das deutsche Hoheitsgebiet beschränkten Linien mit einer ebenso großen oder größeren Streckenlänge als die genannten grenzüberschreitenden Linien nicht.

71 In Anbetracht des Vorliegens mehrerer der in Art. 21 Buchst. a Satz 2 der Verordnung Nr. 562/2006 aufgeführten Indizien, einer Beurteilung ihres jeweiligen Gewichts sowie des Fehlens hinreichender Konkretisierungen und Einschränkungen in Bezug auf die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der nach § 63 Abs. 1 AufenthG vorgeschriebenen Kontrollen in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung sind solche Kontrollen daher als Maßnahme mit "gleiche[r] Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen" einzustufen, die nach Art. 21 Buchst. a Satz 1 der Verordnung verboten ist.

72 Daraus folgt ferner, dass Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 der Regelung in § 63 Abs. 2 AufenthG entgegensteht, soweit danach die Nichterfüllung der in § 63 Abs. 1 AufenthG vorgesehenen allgemeinen Kontrollpflicht mit einer zwangsgeldbewehrten Untersagungsverfügung geahndet werden kann. Eine solche Sanktion ist nämlich nicht mit Art. 21 Buchst. a vereinbar, da sie die Einhaltung einer Kontrollpflicht sicherstellen soll, die ihrerseits nicht mit Art. 21 Buchst. a im Einklang steht.

73 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie Art. 21 der Verordnung Nr. 562/2006 dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie den in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen jeder Beförderungsunternehmer, der im Schengen-Raum einen grenzüberschreitenden Linienbusverkehr mit Zielort im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats betreibt, verpflichtet ist, den Pass und den Aufenthaltstitel der Passagiere vor dem Überschreiten einer Binnengrenze zu kontrollieren, um zu verhindern, dass Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz dieser Reisedokumente sind, in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befördert werden, und nach denen die Polizeibehörden zur Durchsetzung dieser Kontrollpflicht zwangsgeldbewehrte Verfügungen zur Untersagung solcher Beförderungen an Beförderungsunternehmer richten können, die nach ihren Feststellungen Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz der genannten Reisedokumente waren, in das betreffende Hoheitsgebiet befördert haben. [...]